EINLEITUNG
Ich kann aber jederzeit von einem Verbrecher,
von einem Idioten beseitigt werden.
Adolf Hitler1
„Attentate", so behauptete der bedeutsame englische
Staatsmann
Benjamin Disraeli, „haben noch nie den Gang der
Weltgeschichte
geändert"2. Der Satz wird gerne gutgläubig zitiert,
besonders
in Krisenzeiten; dennoch ist er pures Wunschdenken und
sachlich unhaltbar. Gegenbeispiele gibt es genug, frappante
obendrein:
die Schüsse auf Erzherzog Franz Ferdinand in Sarajevo lösten
den Ersten Weltkrieg aus; die Tötung des Leningrader
Parteisekretärs
Sergej Kirov lieferte den Anlass zu den mörderischen
Säuberungen
in Stalins Sowjetunion. Nur zwei von vielen Ereignissen,
die belegen, dass Attentate den Lauf der Dinge sehr wohl zu
beeinflussen vermögen.
Der Frage, ob die Attentäter mit ihrem Vorgehen erreichten,
was sie wollten, hat der britische Historiker Miles Hudson
unlängst eine detaillierte Studie gewidmet3, in der er
achtzehn
berühmte Mordanschläge aus verschiedenen Epochen der
Menschheitsgeschichte
analysiert. Er findet keinen einzigen, der die
Verantwortlichen
ihren Zielen näher gebracht hätte. In vielen Fällen
bewirkten die Morde sogar das glatte Gegenteil. Die
Erschießung
Präsident Lincolns durch einen Sympathisanten der Südstaaten
zum Beispiel erwies sich als katastrophal für die Sache der
Konföderierten.
Die irischen Nationalisten, die 1882 Lord Cavendish,
den zweithöchsten Beamten der britischen Verwaltung in
Irland,
erstachen, warfen damit den Unabhängigkeitskampf ihres
Volkes
um eine ganze Generation zurück. Man darf also feststellen:
Zweifellos
haben Attentate den Gang der Geschichte geändert, niemals
jedoch im Sinne der Attentäter.
Immer wieder reizt Autoren, Historiker wie Belletristen die
Spekulation, ob die Ermordung Hitlers die große Ausnahme von
dieser Regel geworden wäre und welchen Lauf die Welt dann
genommen hätte. Wie viele Menschenleben hätte ein
erfolgreiches
Attentat retten können? Wäre mit Hitlers Ermordung der Krieg
zu
verhindern gewesen? Wie hätte sich Europa und vor allem
Deutschland unter diesen Umständen im 20. Jahrhundert
entwickelt?
Ich nehme an, dass die meisten meiner Leser aus heutiger
Sicht
zumindest gefühlsmäßig davon überzeugt sind, dass ein
gelungenes
Attentat in diesem speziellen Fall erbracht hätte, was die
Urheber
bezweckten. Zu Hitlers Lebzeiten herrschte in dieser Frage
wenig Einmütigkeit bei den Gegnern des Diktators. Es liefen
hitzige
Debatten über die heiklen moralischen Implikationen: Darf
der
Mensch ‚Gott spielen‘? Würde ein solcher Anschlag nicht
einen
gefährlichen Präzedenzfall schaffen? Gibt es so etwas wie
einen
‚ehrbaren Verrat‘? Wäre die Tötung eines Staatsterroristen
nicht
selber ein staatsterroristischer Akt? Könnte ein so
herbeigeführtes
Abtreten Hitlers nicht seinerseits Furchtbares bewirken?
Auch
wenn es manchen überrascht: Seit die Idee aufkam, Hitler
gewaltsam
zu beseitigen, ist sie heftig umstritten.
All die Bedenken haben Hitlers Attentäter indes nicht
abgeschreckt.
Wohl auf keinen Staatschef der Welt wurden so viele
Mordanschläge verübt: Nicht weniger als 42 Einzelversuche
haben
Historiker gezählt,4 und selbst diese Liste kann keine
Vollständigkeit
beanspruchen. Freilich sind darin einige eher vage Pläne mit
berücksichtigt. Hinter immerhin 20 der Vorhaben aber stecken
genügend Ernsthaftigkeit und Glaubwürdigkeit, um eine nähere
Betrachtung im Rahmen unserer Studie zu rechtfertigen.
Hitler gehört zu den mächtigsten Menschen des 20.
Jahrhunderts,
vielleicht war er der mächtigste überhaupt. Dies sichert ihm
dauerhaft einen hohen Bekanntheitsgrad. Wo immer es
Brutalität,
Intoleranz und Rassenhass gibt, ist sein Name präsent. Sein
Gesicht – auf den ersten Blick zu erkennen und von geradezu
ikonischer
Einprägsamkeit wie kein zweites in der modernen Welt -
wird selbst jenen unvergessen bleiben, die ihr Leben in
Frieden
zubringen dürfen.
Die Geschichte des politischen Mordes kennt genügend
Beispiele
für das Phänomen, dass im Bewusstsein der Nachwelt Urheber
und Opfer untrennbar miteinander verbunden erscheinen: etwa
John F. Kennedy und sein Attentäter Lee Harvey Oswald,
Abraham
Lincoln und John Wilkes Booth, Franz Ferdinand und Gavrilo
Princip. Manchmal werden Attentäter als Helden gefeiert,
öfter
EINLEITUNG
12
freilich als Verbrecher geschmäht. Vergessen werden sie
selten.
Hitlers Attentäter jedoch sind heute weitgehend unbekannt.
Höchstens der Name Claus von Stauffenberg löst bei einem
breiteren
Publikum eine Erinnerung aus. Auch wenn keiner der
Attentäter
das hochgesteckte Ziel erreicht hat, die Welt von Adolf
Hitler
zu befreien, verdienen diese Menschen größere Anerkennung,
als
sie heute erfahren. Sie verdienen Besseres, als nur in den
Fußnoten
der Geschichtsbücher zu existieren; Besseres als das anonyme
Dunkel, in das sie die Zeitläufe und die Nichteignung ihres
Schicksals zum Modethema verbannt haben – jenes Dunkel, das
schon ihre nazistischen Henker über sie verhängen wollten.
Unter Hitlers Attentätern waren einfache Handwerker
vertreten
und hochrangige Militärs, unpolitische Persönlichkeiten
ebenso
wie ideologisch besessene, feindliche Agenten und engste
Verbündete.
Unerklärlicherweise sind nur wenige dieser Menschen
außerhalb
der engen Grenzen akademischer Historik bekannt. Dem
Durchschnittsleser dürfte kaum eine ihrer Aktionen geläufig
sein.
Die Geschichte ihrer Pläne, ihrer Motive und ihres
Scheiterns ist
auch ein Protokoll über die erstaunliche Zählebigkeit eines
Tyrannen.
EINLEITUNG
13
PROLOG
München,
Donnerstag, 8. November 1923,
20.30 Uhr
Nur wenige Gäste dürften den fahlgesichtigen jungen Mann
bemerkt haben, der an jenem Abend den Saal des großen
Wirtshauses
betrat. Persönlichkeiten von Rang und Namen hatten sich
dort versammelt, die sich zur gesellschaftlichen und
wirtschaftlichen
Elite Münchens zählen konnten: Bankiers, führende
Geschäftsleute, Zeitungsverleger, Politiker in leitender
Funktion.
Man war erschienen, um eine Ansprache zum fünften Jahrestag
der Novemberrevolution zu hören; halten sollte sie der neu
ernannte
bayrische Generalstaatskommissar, Ex-Ministerpräsident
Gustav
von Kahr, der seinerzeit mächtigste Mann im Lande Bayern.
Die Teilnehmer der Versammlung glaubten zu wissen, was sie
erwartete: eine wuchtige Attacke wider den Marxismus,
Informationen
über die nächsten Schritte der Regierung und möglicherweise
ein engagiertes Plädoyer, in Bayern die Monarchie wieder
einzuführen. Sie erlebten stattdessen den Versuch einer
Revolution.
Der Ort des Geschehens, der Bürgerbräukeller, war das
geräumigste
Bierlokal Münchens. Es lag auf dem östlichen, rechten
Ufer der mitten durch das Stadtgebiet fließenden Isar. Sein
Kernstück
bildete ein riesiger, an eine Höhlenhalle gemahnender Saal,
der nur mühsam an die Gemütlichkeit erinnerte, die man
traditionell
mit bayrischen Bierwirtschaften verbindet. Reich verzierte
Kronleuchter hingen von der hohen Decke und über eine Wand
zog sich eine Galerie. Insgesamt fasste der
Bürgerbräukeller, wenn
die Gäste beidseitig der langen Biertische Platz nahmen,
ohne
Schwierigkeit 3.000 Leute und war sehr geeignet für
politische
Vorträge und Versammlungen, die bevorzugt dort stattfanden.
Am
Abend des 8. November 1923 war die Halle rappelvoll. Schon
um
19.15 Uhr hatte man die Türen wegen Überfüllung geschlossen.
Unzählige, die keinen Einlass fanden, standen enttäuscht
draußen
im Nieselregen.
Der Fahlgesichtige hielt sich im Hintergrund des Saales. Den
meisten Anwesenden war der Mann kein Unbekannter. Sein
Gesicht mit den stechend blauen Augen, scharf
hervorspringenden
Wangenknochen und dem Schuhbürstenschnurrbart hatte man
gesehen, zumindest seinen Namen gehört und sein Wirken
flüchtig
registriert. Adolf Hitler, Mitte 30, führte eine extrem
nationalistische
Gruppe, hauptsächlich aktiv im Raum München, die sich
‚Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei‘, kurz
‚NSDAP‘
nannte. Wer die Nationalsozialisten nicht mochte, benutzte
die
bald sehr populäre, knappe Bezeichnung ‚Nazis‘. Der bleiche
Mann hatte sich längst ein gewisses Renommee erworben als
hochtalentierter Redner, dessen leidenschaftliche, von
keiner
Mäßigung gebremsten Vorträge zur deutschen Politik ihr
Publikum
packten und begeisterten. Auch im Bürgerbräukeller hatte er
schon
mehrfach gesprochen. Heute war er jedoch nicht als Redner
gekommen, sondern als Revolutionär. Sein Äußeres allerdings
passte nicht recht zu dieser Rolle. Der schlecht sitzende
Gehrock
mit flattrigen Schößen, das dicht an den Schädel geklatschte
Haar,
das ihm strähnig in die Stirn fiel, entsprachen nicht dem
Bild eines
Umstürzlers, eher dem eines überarbeiteten Kellners oder
Leichenbestatters.
Eine halbe Stunde hielt Generalstaatskommissar von Kahr
seine
programmatische Rede ungestört, dann wurde er jäh
unterbrochen.
Die Verschwörer, Hitler an der Spitze, stürmten vorwärts.
Ein SATrupp
postierte ein Maschinengewehr am Halleneingang. Der
distinguierte
Herr auf dem Podium verstummte; überraschtes Geflüster
lief durch den Saal, die biertrinkenden Zuhörer reckten
neugierig
die Hälse, Frauen fielen in Ohnmacht, Tische stürzten um. In
dem allgemeinen Durcheinander kletterte Hitler auf einen
Stuhl,
schoss mit einer Pistole in die Decke und forderte laut und
gebieterisch
Ruhe; dann verkündete er: „Die nationale Revolution ist
ausgebrochen!"1
Nach ein paar Worten zur Situation ließ er seine Leibwache
und
die SA-Leute an den Ausgängen des Bürgerbräukellers Stellung
beziehen. Nun rief er die drei Herren, die seit einem jüngst
verhängten
Ausnahmezustand praktisch die Macht über Bayern innehatten:
Gustav von Kahr, Generalstaatskommissar, Otto von Los-
PROLOG
16
sow, Landeskommandant der Reichswehr für Bayern, und Hans
von Seißer, den Chef der bayrischen Landespolizei, zu einem
separaten Gespräch ins Nebenzimmer. Die gegebene Situation
überzeugte die Genannten rasch, der Ladung Folge zu leisten.
Kaum war man unter sich, überzog Hitler, vor Erregung
bebend,
sein dreiköpfiges Zwangspublikum mit einer wild-pathetischen
Suada, seine politischen Pläne betreffend. Eine neue
Regierung
solle Deutschland bekommen, und er, Adolf Hitler, werde sie
einsetzen
und führen. Falls die Anwesenden bereit seien zu
kooperieren,
winkten ihnen Ministerposten in seinem Kabinett. Gegen
Ende hob Hitler seine Waffe und drohte melodramatisch: „Vier
Schuss habe ich in meiner Pistole, drei für meine
Mitarbeiter,
wenn sie mich verlassen, die letzte Kugel für mich". Er
drückte
den Lauf an seine Schläfe und erklärte: „Wenn ich nicht
morgen
Nachmittag Sieger bin, bin ich ein toter Mann"2.
1923 lagen fünf Jahre Chaos hinter Deutschland. Die
verheerende
Niederlage im Weltkrieg war längst nicht verkraftet; die
harten
Friedensbedingungen der Sieger, besonders ihre
milliardenhohen
Reparationsforderungen, verbitterten viele. Zwar hatte das
Reich seit 1919 eine parlamentarische Verfassung, doch im
Volk
besaß die Demokratie keine feste Basis. Rechte wie Linke
feindeten
sie an; man machte sie für die vielen Missstände
verantwortlich,
die die junge Republik plagten und nicht zuletzt für die
bedrohlich labilen Wirtschaftsverhältnisse. Namentlich die
galoppierende
Inflation zerstörte die Lebensgrundlage zahlreicher Menschen
und trieb nicht wenige in die politische Radikalisierung.
Schon 1920 lag der Preisindex nahezu 15-mal so hoch wie im
Vorkriegsjahr
1913; zwei Jahre später erreichte er fast das 350fache.
1923 wurde zum eigentlichen Krisenjahr. Im Westen besetzten
die
Franzosen wegen ausgebliebener deutscher
Reparationszahlungen
das Ruhrgebiet; passiver Widerstand, gewalttätige Streiks
und
Hungerrevolten waren die Folgen. Kaum minder unruhig war es
in
den östlichen Landesteilen. Im brandenburgischen Küstrin
versuchten
unzufriedene Reichswehr-Einheiten einen Putsch; in Sachsen
und Thüringen hielten sich ein paar Monate prokommunistische
Regierungen. Ein Ende der politischen Instabilität war nicht
abzusehen, die Wirtschaft erwartete ein Sturz ins Bodenlose.
Januar
1923 kletterten die Preise auf das 2.500fache ihres Standes
von
1913; im Dezember betrug der Steigerungsfaktor über eine
Billion
PROLOG
17
(1.250.000.000.000).3 Die Hyperinflation bewirkte den
allgemeinen
Zusammenbruch der deutschen Währung, deren Kaufkraft
gegen null tendierte. Ein schlichtes Brot kostete
gelegentlich über
400 Billionen Mark. In vielen Haushalten wurden die
Inflationsbanknoten
lieber im Ofen verbrannt, als mit ihnen Brennstoff zu
erwerben. Die meisten Deutschen standen finanziell vor dem
Nichts.
Die Situation in Bayern war nicht erfreulicher. Die
Umwälzungen
der letzten Jahre hatten bei manchen Bajuwaren
separatistische
Gelüste erweckt. Die bayrische Landesregierung in München
ging selbstbewusst eigene Wege, Mahnungen aus Berlin
geflissentlich
ignorierend. Was etwa die radikale Rechte betraf, so ließ
die Landesregierung sie relativ ungeniert gewähren.
Tatsächlich
hatte die rechte Opposition gegen Berlin in Bayern zwei
starke
Machtbasen: die restaurativ-monarchistische ‚alte Rechte‘,
vertreten
durch das in München diktatorisch herrschende Triumvirat
Kahr, Lossow und Seißer, und die revolutionär-völkische
‚neue
Rechte‘, vertreten durch Hitler und sein Gefolge. In einer
bemerkenswerten
Symbiose verachteten beide die Berliner Zentralmacht,
behinderten sie in trauter Gemeinsamkeit nach Kräften und
konnten es kaum erwarten, endlich zum Aufstand zu blasen.
Was
die ersehnte Revolution allerdings bewirken sollte – darüber
gingen
die Visionen weit auseinander. Vereinfacht gesagt: Die ‚alte
Rechte‘ wünschte eine unabhängige bayrische Regierung,
während
die ‚neue Rechte‘ die Zentralregierung zu übernehmen
begehrte.
Die einen wollten ‚los von Berlin‘, die anderen wollten den
‚Marsch auf Berlin‘.
An jenem Abend im Bürgerbräukeller konnte Hitler das
regierende
Triumvirat zumindest fürs Erste von seiner Vision einer
nationalen Revolution überzeugen. Etwa eine Stunde
konferierten
die vier, dann kehrte Hitler zurück in die Halle und stieg,
begleitet
von seinen drei neuen Verbündeten, aufs Podium. Inzwischen
war
weitere namhafte Unterstützung eingetroffen: General
Ludendorff,
einstmals Erster Generalquartiermeister der kaiserlichen
Armee
und seit kurzem Kombattant Hitlers. Auch er betrat die
Tribüne.
Immer wieder reichten die fünf einander demonstrativ die
Hände,
beteuerten ihre ernsthafte Bereitschaft zur Zusammenarbeit
und
den Willen, eine provisorische nationale Regierung zu
bilden.
Hatte sich zu Beginn das Auditorium noch skeptisch
verhalten,
PROLOG
18
brach es jetzt in hemmungslose Begeisterung aus. Besonders
Hitlers
Rede elektrisierte die Leute. Spontan erhob sich der Gesang:
„Deutschland, Deutschland über alles". Die „Stimmung der
Mehrheit
hatte völlig umgeschlagen", erinnerte sich später ein
Augenzeuge;
„Hitler hatte sie mit einigen Sätzen umgedreht, wie man
einen Handschuh umdreht. Es hatte fast etwas von einem
Hokuspokus,
von einer Zauberei"4. Anschließend verlas Rudolf Heß,
Hitlers
persönlicher Sekretär, eine Liste mit den Namen prominenter
„Volksfeinde", die zu verhaften und vor Gericht zu stellen
seien –
ein Omen künftiger Schrecken. Inzwischen trafen aus der
Stadt
zunehmend Sympathisanten ein. Den ersten Akt des Putsches,
so
schien es, hatte Hitler erfolgreich überstanden.
Außerhalb der Bierhalle freilich ging die Sache nicht so
glatt.
Anfangs glückte den Putschisten einiges. Als die SA-Truppen
vor
der Infanterieschule aufmarschierten, liefen die Kadetten zu
ihnen
über. Die Räume der führenden Tageszeitung Münchner Post
waren rasch besetzt, desgleichen das Wehrkreiskommando VII
im
ehemaligen bayrischen Kriegsministerium – immerhin die
Befehlszentrale des bayrischen Teils der Reichswehr. Auch
die
großen Münchner Bierhallen waren eingenommen, doch je weiter
die Nacht vorwärtsschritt, desto spärlicher wurden die
Siegesmeldungen.
Mehr strategisch wichtige Punkte vermochte man nicht zu
erobern, keine Kasernen, keine öffentlichen Gebäude. Dies
lag
einerseits an der organisatorischen Unfähigkeit der
Putschisten,
andererseits an der wachsenden Entschlossenheit der
Gegenseite.
Diese machte sich inzwischen zum Kampf bereit, und kaum
hatten Kahr, Lossow und Seißer ihre Handlungsfreiheit
wieder,
verurteilten sie den Putsch und setzten sich an die Spitze
des
Widerstands. Die aus Sicherheitsgründen kurzfristig nach
Regensburg
verlegte Regierung verbot zuerst das Erscheinen der
Morgenblätter;
dann orderte sie militärische Verstärkung aus den Provinzen.
Bald kontrollierten die Reichswehrtruppen die ganze Stadt;
sie waren genau instruiert, wie sie der Rebellion begegnen
sollten.
Im Bürgerbräukeller richteten sich die
Möchtegern-Revolutionäre
auf eine lange Nacht ein. Bei reichlich Bier und belegten
Brötchen
hielt sich für eine Weile noch ihr Optimismus. Tatsächlich
aber
hatten sie die Initiative verloren und steckten in einem
bedrohlichen
Patt.
Ein kalter Morgen dämmerte. Die Putschisten mussten einse-
PROLOG
19
hen, dass ihr Versuch, die Bastionen der Macht zu stürmen,
gescheitert war. Ein Korrespondent der Londoner Times
ging an
eben jenem Morgen zum Bürgerbräukeller, wo er Hitler und
Ludendorff in einem kleinen Zimmer des Obergeschosses fand.
Hitler, schrieb er, sei „todmüde" gewesen; „dieser kleine
Mann im
alten Regenmantel mit einem Revolver an der Hüfte, unrasiert
und
ungekämmt, so heiser, dass er kaum sprechen konnte", habe
sichtlich
Mühe gehabt, den agilen Revolutionär zu geben. Ludendorff
wiederum erschien ihm „nachdenklich und besorgt"5.
Die Putschisten berieten, was zu tun sei. Einer schlug vor,
den
bayrischen Kronprinzen um Unterstützung anzugehen. Ein
anderer
empfahl den taktischen Rückzug nach Rosenheim nahe der
österreichischen
Grenze. Draußen zerfaserte der Aufstand zusehends;
Befehle wurden nur noch schleppend befolgt, und immer mehr
Trupps verließen ihre Posten, da sie ihre Sache verloren
glaubten.
Irgendwann an diesem Vormittag kam im Bierhallenquartier
jener
Gedanke auf, der vielen als die rettende Idee erschien: ein
Demonstrationsmarsch durch die Innenstadt. So könnte man
nicht
nur die Kameraden befreien, die das Wehrkreiskommando
besetzt
hatten und dort in der Falle saßen, sondern auch die
Münchner
Bevölkerung mitreißen und das Patt brechen. Die Armee,
kalkulierte
man, stelle kein wirkliches Problem dar: Nie würde sie ihre
Maschinengewehre gegen Ludendorff richten, den
prominentesten
General des Weltkriegs. Die Hitzköpfe erwogen sogar, bei
hinreichender
Mobilisierungskraft den ‚Marsch auf Berlin‘ zu wagen –
nach dem Vorbild Mussolinis, der ein Jahr zuvor mit seinem
‚Marsch auf Rom‘ die Macht erobert hatte. In dem gegen ihn
und
seine Kombattanten geführten Prozess sagte Hitler einige
Monate
später aus, „man habe den Entschluss zum Marsch in die Stadt
gefasst, um das Volk für sich zu gewinnen"6.
Es ging auf Mittag zu, als sich vom Bürgerbräukeller aus ein
etwa 2.000 Mann starker Zug Richtung Innenstadt bewegte,
alle
bewaffnet, alle finster und unbeugsam dreinschauend. Unter
Hakenkreuzfahnen und schwarz-weiß-roten Reichskriegsflaggen
marschierten in der ersten Reihe: Hitler und Ludendorff an
der
einen Seite; an der anderen Max von Scheubner-Richter,
Hitlers
enger Vertrauter und Berater; dazwischen der stiernackige
Ulrich
Graf, gelernter Metzger, später Amateurringer, jetzt
Leibwächter
Hitlers, der Nazi-‚Philosoph‘ Gottfried Feder und der Führer
der
PROLOG
20
Münchner SA-Trupps, Hermann Göring, in einem eleganten
knöchellangen
Ledermantel, den er offen ließ, so dass der Pour-le-
Mérite-Orden am Hals gut sichtbar war (er hatte sich diese
höchste
deutsche militärische Auszeichnung als Flieger im Weltkrieg
erworben). Dahinter marschierten in Viererkolonnen Hitlers
Sicherheitskräfte: das Münchner SA-Regiment und der
gleichfalls
paramilitärisch organisierte ‚Bund Oberland‘. Ein mit Waffen
voll
beladener Wagen begleitete sie. Die Nachhut bildete ein bunt
zusammengewürfelter Haufen aus sympathisierenden Studenten,
Geschäftsleuten und Veteranen. Einige waren bereits ‚alte
Kämpen‘
der nationalen Sache, andere schlicht zufällige Mitläufer,
die
die Nervenkitzel versprechenden Ereignisse der vergangenen
Nacht zur Teilnahme inspiriert hatten. Manche trugen eine
fesche
Uniform, manche ihre Ehrenzeichen aus dem Krieg, andere
trotteten
in ihrem Arbeitszeug daher.
Von den neugierigen Münchnern bald bejubelt, bald verhöhnt,
schritten die Putschisten tapfer aus, wobei sie sich durch
das
Absingen nationalistischer Lieder Mut machten. An der Isar
erwartete sie ein Polizeikordon, der die Ludwigsbrücke
sperrte.
Drohend senkten einige Kämpfer ihre Bajonette; andere traten
den
Beamten mit dem Mahnruf entgegen, nicht auf Kameraden zu
schießen. Da die Angesprochenen zögerten, wurden sie
schlicht
überrannt. Der Zug passierte ungehindert die Brücke und
setzte
seinen Weg durchs Isartor ins Herz Münchens fort zum
Marienplatz,
wo sich eine riesige Menschenmenge versammelt hatte, die
schaulustig verfolgte, was sich da entwickelte. Die
Marschkolonne
wandte sich nun nordwärts Richtung Odeonsplatz; von dort aus
wären es nur noch knapp 50 Meter bis zum Ziel gewesen, dem
Wehrkreiskommando im alten Kriegsministerium an der
Ludwigstraße.
Schon schritt man durch die enge Residenzstraße, an deren
Ende die Feldherrnhalle liegt, eine 1841-1844 erbaute
Ehrenstätte
zur Würdigung des bayrischen Militärs mit einer zum
Odeonsplatz
hin offenen Loggia. Neben diesem Monument hatte eine zweite,
größere Polizeikette Posten bezogen und den Weg verstellt.
Die
Demonstranten hakten sich unter und stürmten los; einige
sangen,
einige senkten wieder die Bajonette.
Diesmal ließ sich die Staatsmacht nicht überrennen. Als die
Ordnungskräfte und die Verschwörer vor der Feldherrnhalle
zusammenstießen, knallte ein Schuss. Sofort eröffnete die
Polizei
PROLOG
21
das Feuer, das die Gegenseite heftig erwiderte. Ein wildes
Gefecht
brach los. Schon bei der ersten Salve der Gendarmen sank die
vorderste
Reihe der Putschisten nieder; die übrigen flohen. Wer nach
ein paar Minuten noch dalag, war entweder tot oder schwer
verletzt.
Göring erhielt eine Kugel in den Oberschenkel. Scheubner-
Richter, der sich links bei Hitler eingehakt hatte, wurde
tödlich in
die Brust getroffen und riss den Putschistenführer mit zu
Boden.
Graf, der während der Attacke Hitler mit seinem Körper
deckte,
erlitt zahlreiche gravierende Schusswunden. Achtzehn
Menschen
kostete der Kampf das Leben: vier auf Seiten der Polizei,
vierzehn
auf Seiten der Gefolgsleute Hitlers. Karl Laforce, der
jüngste der
Putschisten, die vor der Feldherrnhalle starben, war gerade
erst
neunzehn.
Hitler, im Tumult gestürzt, stand eine ganze Weile nicht
wieder
auf, so dass unter den Seinen schon das verzweifelte Gerücht
die
Runde machte, er sei tot. Zunächst hatte der
Putschistenführer
selbst eine schwere Schussverletzung vermutet; tatsächlich
rührten
seine Schmerzen aber von einer verrenkten Schulter her. Der
sterbende
Scheubner-Richter hatte im Fallen so heftig an Hitlers
linkem
Arm gezerrt, dass dieser aus dem Gelenk gesprungen war.7
Obwohl stark angeschlagen, rappelte sich Hitler schließlich
wieder
hoch und schleppte sich zu einem nahe gelegenen Platz, wo
ein
paar seiner Anhänger in einem Auto warteten, die ihn, nicht
ohne
Schwierigkeiten, aus München herausschafften. Man fuhr
südwärts,
Richtung Österreich. Die abenteuerliche Flucht endete am
Nachmittag im oberbayrischen Uffing; Hitlers wohlhabender
Freund und Förderer, der Kunsthändler Ernst ‚Putzi‘
Hanfstaengl
(später Hitlers Pressechef), besaß dort ein Landhaus. Ein
herbeigerufener
Arzt und Sympathisant Hitlers versorgte notdürftig die
Verletzung.
Zwei Tage später, in den frühen Abendstunden des 11.
November,
hatte die Staatsmacht den Oberputschisten aufgespürt.
Augenzeugen
berichten, dass Hitler zusammenbrach, als er hörte, die
Polizei stehe vor der Tür. Mit dem Ruf: „Nun ist alles
verloren!"
griff er nach seiner Pistole.8 Doch statt sich zu
erschießen, wie er
im Bürgerbräukeller versichert hatte, fügte Hitler sich
widerstandslos,
als ein Polizeioffizier eintrat und ihn für verhaftet
erklärte. Schauplatz der Diensthandlung war ein
Schlafzimmer, wo
Hitler im Pyjama, schweigend und düster dreinschauend, seine
PROLOG
22
Festnahme erwartete.9
Hitlers ‚nationale Revolution‘ lag in Scherben. Ihr Führer
war
dem Tod entronnen, aber gescheitert; seine Partei war
verfemt,
seine treusten Gefolgsleute waren tot, eingesperrt oder
außer Landes
geflohen. Knapp ein Vierteljahr nach den Ereignissen stellte
man ihn wegen Hochverrats vor Gericht; das Urteil: fünf
Jahre
Festungshaft, zu verbüßen in Landsberg am Lech. Die meisten
zeitgenössischen Beobachter kamen übereinstimmend zu dem
Schluss, das Phänomen Adolf Hitler werde wohl eine Fußnote
in
der deutschen Geschichte bleiben als Schimäre oder einer
jener
fanatischen Spinner, von denen die Historie viele kennt, die
mit
radikalem und revolutionärem Gelärme kurz Aufmerksamkeit
erregten, aber nichts bewirkten. Die Londoner Times
erklärte Hitler,
den sie verachtungsvoll als „Anstreicher und Demagogen"
titulierte, für politisch erledigt.10 Nicht wenige sprachen
von ihm
nur noch in der Vergangenheitsform. Nach dem misslungenen
Putsch 1923 fiel, so erinnert sich später der Schriftsteller
Stefan
Zweig, „der Name Adolf Hitler [...] in Vergessenheit
zurück"11.
Hitler selbst schien gegen sämtliche negativen Orakel immun.
Wie er während seines Verfahrens gegenüber dem Staatsanwalt
provozierend herausstrich, wusste er sich zu Höherem
berufen.
„Mögen Sie uns tausendmal schuldig sprechen", wetterte er,
„die
Göttin des ewigen Gerichts der Geschichte wird lächelnd den
Antrag des Staatsanwaltes und das Urteil des Gerichtes
zerreißen,
denn sie spricht uns frei"12. Der Kugelhagel der bayrischen
Polizei,
der seine Truppen in München niedergeworfen hatte, gab ihm
erstmals
Gelegenheit, die ‚Vorsehung‘ zu bemühen. Hitler zog aus
dem Putschversuch, der blutigen Niederlage und der Haft in
Landsberg eigene Schlüsse und den unerschütterlichen
Glauben,
das Schicksal habe ihn gezielt verschont, um seine
‚historische
Bestimmung‘ zu erfüllen, Deutschland zu retten. Er war nun
ein
Mann mit einer Mission.
PROLOG
23