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Wohl auf keinen Staatschef der Welt wurden so viele Mordanschläge verübt: nicht weniger als 42 Einzelversuche haben Historiker auf den mächtigsten Mann des 20. Jahrhunderts gezählt. Hitlers Attentäter aber sind heute weitgehend unbekannt. Allenfalls der Name Claus von Stauffenberg mag noch präsent sein. Gewiss, keiner hat das hochgesteckte Ziel erreicht, die Welt von Adolf Hitler zu befreien. Und doch: diese Menschen verdienen größere Anerkennung, als sie heute erfahren. Sie verdienen Besseres, als nur in den Fußnoten der Geschichtsbücher fortzuexistieren; Besseres, als das anonyme Dunkel, in das sie verbannt wurden - jenes Dunkel, das oft schon ihre nazistischen Henker über sie verhängen wollten. Unter Hitlers Attentätern waren einfache Handwerker ebenso vertreten wie hochrangige Militärs, Unpolitische ebenso wie ideologisch Besessene, feindliche Agenten ebenso wie engste Verbündete. Unerklärlicherweise sind nur wenige dieser Menschen außerhalb der engen Grenzen akademischer Historik bekannt. Dem Durchschnittsleser dürfte kaum eine ihrer Aktionen geläufig sein. Hier also ist ihre Geschichte. Es ist die Geschichte ihrer Pläne, ihrer Motive und - unvermeidlich - ihres Scheiterns. Aber es ist auch ein Protokoll über die erstaunliche Zählebigkeit eines Tyrannen. - Bereits in 9 Sprachen veröffentlicht - Aktuell: Mit einem Kapitel über den britischen Doppelagenten Eddie Chapman
 

Der Autor Roger Moorhouse, geboren 1968 in Stockport, Cheshire, Studium an der London University, ist Dozent für Neue Deutsche Geschichte an der University of Strathclyde, und regelmäßiger Mitarbeiter des BBC History Magazine. Zudem ist er Mitglied der Royal Society of Arts. Moorhouse lebt mit seiner Frau und zwei Kindern in Buckinghamshire. Die Übersetzung stammt von Dr. Ulrich Bossier, geboren 1952, studierter Germanist und Romanist. Anschluss Studium des Literaturübersetzen (Französisch-Deutsch, Englisch-Deutsch) und Promotion im Fach Romanistik. Bossier arbeitet als freiberuflicher Übersetzer.
 

Roger Moorhouse
Killing Hitler
Die Attentate, die Pläne und warum sie scheiterten

380 S., geb. mit SU, 12,5 x 20 cm


ET: 19.10.2007
EAN: 978-3-86539-136-0

 

 

 

EINLEITUNG

Ich kann aber jederzeit von einem Verbrecher,

von einem Idioten beseitigt werden.

Adolf Hitler1

„Attentate", so behauptete der bedeutsame englische Staatsmann

Benjamin Disraeli, „haben noch nie den Gang der Weltgeschichte

geändert"2. Der Satz wird gerne gutgläubig zitiert, besonders

in Krisenzeiten; dennoch ist er pures Wunschdenken und

sachlich unhaltbar. Gegenbeispiele gibt es genug, frappante obendrein:

die Schüsse auf Erzherzog Franz Ferdinand in Sarajevo lösten

den Ersten Weltkrieg aus; die Tötung des Leningrader Parteisekretärs

Sergej Kirov lieferte den Anlass zu den mörderischen Säuberungen

in Stalins Sowjetunion. Nur zwei von vielen Ereignissen,

die belegen, dass Attentate den Lauf der Dinge sehr wohl zu

beeinflussen vermögen.

Der Frage, ob die Attentäter mit ihrem Vorgehen erreichten,

was sie wollten, hat der britische Historiker Miles Hudson

unlängst eine detaillierte Studie gewidmet3, in der er achtzehn

berühmte Mordanschläge aus verschiedenen Epochen der Menschheitsgeschichte

analysiert. Er findet keinen einzigen, der die Verantwortlichen

ihren Zielen näher gebracht hätte. In vielen Fällen

bewirkten die Morde sogar das glatte Gegenteil. Die Erschießung

Präsident Lincolns durch einen Sympathisanten der Südstaaten

zum Beispiel erwies sich als katastrophal für die Sache der Konföderierten.

Die irischen Nationalisten, die 1882 Lord Cavendish,

den zweithöchsten Beamten der britischen Verwaltung in Irland,

erstachen, warfen damit den Unabhängigkeitskampf ihres Volkes

um eine ganze Generation zurück. Man darf also feststellen: Zweifellos

haben Attentate den Gang der Geschichte geändert, niemals

jedoch im Sinne der Attentäter.

Immer wieder reizt Autoren, Historiker wie Belletristen die

Spekulation, ob die Ermordung Hitlers die große Ausnahme von

dieser Regel geworden wäre und welchen Lauf die Welt dann

genommen hätte. Wie viele Menschenleben hätte ein erfolgreiches

Attentat retten können? Wäre mit Hitlers Ermordung der Krieg zu

verhindern gewesen? Wie hätte sich Europa und vor allem

Deutschland unter diesen Umständen im 20. Jahrhundert entwickelt?

Ich nehme an, dass die meisten meiner Leser aus heutiger Sicht

zumindest gefühlsmäßig davon überzeugt sind, dass ein gelungenes

Attentat in diesem speziellen Fall erbracht hätte, was die Urheber

bezweckten. Zu Hitlers Lebzeiten herrschte in dieser Frage

wenig Einmütigkeit bei den Gegnern des Diktators. Es liefen hitzige

Debatten über die heiklen moralischen Implikationen: Darf der

Mensch ‚Gott spielen‘? Würde ein solcher Anschlag nicht einen

gefährlichen Präzedenzfall schaffen? Gibt es so etwas wie einen

‚ehrbaren Verrat‘? Wäre die Tötung eines Staatsterroristen nicht

selber ein staatsterroristischer Akt? Könnte ein so herbeigeführtes

Abtreten Hitlers nicht seinerseits Furchtbares bewirken? Auch

wenn es manchen überrascht: Seit die Idee aufkam, Hitler gewaltsam

zu beseitigen, ist sie heftig umstritten.

All die Bedenken haben Hitlers Attentäter indes nicht abgeschreckt.

Wohl auf keinen Staatschef der Welt wurden so viele

Mordanschläge verübt: Nicht weniger als 42 Einzelversuche haben

Historiker gezählt,4 und selbst diese Liste kann keine Vollständigkeit

beanspruchen. Freilich sind darin einige eher vage Pläne mit

berücksichtigt. Hinter immerhin 20 der Vorhaben aber stecken

genügend Ernsthaftigkeit und Glaubwürdigkeit, um eine nähere

Betrachtung im Rahmen unserer Studie zu rechtfertigen.

Hitler gehört zu den mächtigsten Menschen des 20. Jahrhunderts,

vielleicht war er der mächtigste überhaupt. Dies sichert ihm

dauerhaft einen hohen Bekanntheitsgrad. Wo immer es Brutalität,

Intoleranz und Rassenhass gibt, ist sein Name präsent. Sein

Gesicht – auf den ersten Blick zu erkennen und von geradezu ikonischer

Einprägsamkeit wie kein zweites in der modernen Welt -

wird selbst jenen unvergessen bleiben, die ihr Leben in Frieden

zubringen dürfen.

Die Geschichte des politischen Mordes kennt genügend Beispiele

für das Phänomen, dass im Bewusstsein der Nachwelt Urheber

und Opfer untrennbar miteinander verbunden erscheinen: etwa

John F. Kennedy und sein Attentäter Lee Harvey Oswald, Abraham

Lincoln und John Wilkes Booth, Franz Ferdinand und Gavrilo

Princip. Manchmal werden Attentäter als Helden gefeiert, öfter

EINLEITUNG

12

freilich als Verbrecher geschmäht. Vergessen werden sie selten.

Hitlers Attentäter jedoch sind heute weitgehend unbekannt.

Höchstens der Name Claus von Stauffenberg löst bei einem breiteren

Publikum eine Erinnerung aus. Auch wenn keiner der Attentäter

das hochgesteckte Ziel erreicht hat, die Welt von Adolf Hitler

zu befreien, verdienen diese Menschen größere Anerkennung, als

sie heute erfahren. Sie verdienen Besseres, als nur in den Fußnoten

der Geschichtsbücher zu existieren; Besseres als das anonyme

Dunkel, in das sie die Zeitläufe und die Nichteignung ihres

Schicksals zum Modethema verbannt haben – jenes Dunkel, das

schon ihre nazistischen Henker über sie verhängen wollten.

Unter Hitlers Attentätern waren einfache Handwerker vertreten

und hochrangige Militärs, unpolitische Persönlichkeiten ebenso

wie ideologisch besessene, feindliche Agenten und engste Verbündete.

Unerklärlicherweise sind nur wenige dieser Menschen außerhalb

der engen Grenzen akademischer Historik bekannt. Dem

Durchschnittsleser dürfte kaum eine ihrer Aktionen geläufig sein.

Die Geschichte ihrer Pläne, ihrer Motive und ihres Scheiterns ist

auch ein Protokoll über die erstaunliche Zählebigkeit eines Tyrannen.

EINLEITUNG

13

PROLOG

München,

Donnerstag, 8. November 1923,

20.30 Uhr

Nur wenige Gäste dürften den fahlgesichtigen jungen Mann

bemerkt haben, der an jenem Abend den Saal des großen Wirtshauses

betrat. Persönlichkeiten von Rang und Namen hatten sich

dort versammelt, die sich zur gesellschaftlichen und wirtschaftlichen

Elite Münchens zählen konnten: Bankiers, führende

Geschäftsleute, Zeitungsverleger, Politiker in leitender Funktion.

Man war erschienen, um eine Ansprache zum fünften Jahrestag

der Novemberrevolution zu hören; halten sollte sie der neu ernannte

bayrische Generalstaatskommissar, Ex-Ministerpräsident Gustav

von Kahr, der seinerzeit mächtigste Mann im Lande Bayern.

Die Teilnehmer der Versammlung glaubten zu wissen, was sie

erwartete: eine wuchtige Attacke wider den Marxismus, Informationen

über die nächsten Schritte der Regierung und möglicherweise

ein engagiertes Plädoyer, in Bayern die Monarchie wieder

einzuführen. Sie erlebten stattdessen den Versuch einer Revolution.

Der Ort des Geschehens, der Bürgerbräukeller, war das geräumigste

Bierlokal Münchens. Es lag auf dem östlichen, rechten

Ufer der mitten durch das Stadtgebiet fließenden Isar. Sein Kernstück

bildete ein riesiger, an eine Höhlenhalle gemahnender Saal,

der nur mühsam an die Gemütlichkeit erinnerte, die man traditionell

mit bayrischen Bierwirtschaften verbindet. Reich verzierte

Kronleuchter hingen von der hohen Decke und über eine Wand

zog sich eine Galerie. Insgesamt fasste der Bürgerbräukeller, wenn

die Gäste beidseitig der langen Biertische Platz nahmen, ohne

Schwierigkeit 3.000 Leute und war sehr geeignet für politische

Vorträge und Versammlungen, die bevorzugt dort stattfanden. Am

Abend des 8. November 1923 war die Halle rappelvoll. Schon um

19.15 Uhr hatte man die Türen wegen Überfüllung geschlossen.

Unzählige, die keinen Einlass fanden, standen enttäuscht draußen

im Nieselregen.

Der Fahlgesichtige hielt sich im Hintergrund des Saales. Den

meisten Anwesenden war der Mann kein Unbekannter. Sein

Gesicht mit den stechend blauen Augen, scharf hervorspringenden

Wangenknochen und dem Schuhbürstenschnurrbart hatte man

gesehen, zumindest seinen Namen gehört und sein Wirken flüchtig

registriert. Adolf Hitler, Mitte 30, führte eine extrem nationalistische

Gruppe, hauptsächlich aktiv im Raum München, die sich

‚Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei‘, kurz ‚NSDAP‘

nannte. Wer die Nationalsozialisten nicht mochte, benutzte die

bald sehr populäre, knappe Bezeichnung ‚Nazis‘. Der bleiche

Mann hatte sich längst ein gewisses Renommee erworben als

hochtalentierter Redner, dessen leidenschaftliche, von keiner

Mäßigung gebremsten Vorträge zur deutschen Politik ihr Publikum

packten und begeisterten. Auch im Bürgerbräukeller hatte er schon

mehrfach gesprochen. Heute war er jedoch nicht als Redner

gekommen, sondern als Revolutionär. Sein Äußeres allerdings

passte nicht recht zu dieser Rolle. Der schlecht sitzende Gehrock

mit flattrigen Schößen, das dicht an den Schädel geklatschte Haar,

das ihm strähnig in die Stirn fiel, entsprachen nicht dem Bild eines

Umstürzlers, eher dem eines überarbeiteten Kellners oder Leichenbestatters.

Eine halbe Stunde hielt Generalstaatskommissar von Kahr seine

programmatische Rede ungestört, dann wurde er jäh unterbrochen.

Die Verschwörer, Hitler an der Spitze, stürmten vorwärts. Ein SATrupp

postierte ein Maschinengewehr am Halleneingang. Der distinguierte

Herr auf dem Podium verstummte; überraschtes Geflüster

lief durch den Saal, die biertrinkenden Zuhörer reckten neugierig

die Hälse, Frauen fielen in Ohnmacht, Tische stürzten um. In

dem allgemeinen Durcheinander kletterte Hitler auf einen Stuhl,

schoss mit einer Pistole in die Decke und forderte laut und gebieterisch

Ruhe; dann verkündete er: „Die nationale Revolution ist

ausgebrochen!"1

Nach ein paar Worten zur Situation ließ er seine Leibwache und

die SA-Leute an den Ausgängen des Bürgerbräukellers Stellung

beziehen. Nun rief er die drei Herren, die seit einem jüngst verhängten

Ausnahmezustand praktisch die Macht über Bayern innehatten:

Gustav von Kahr, Generalstaatskommissar, Otto von Los-

PROLOG

16

sow, Landeskommandant der Reichswehr für Bayern, und Hans

von Seißer, den Chef der bayrischen Landespolizei, zu einem

separaten Gespräch ins Nebenzimmer. Die gegebene Situation

überzeugte die Genannten rasch, der Ladung Folge zu leisten.

Kaum war man unter sich, überzog Hitler, vor Erregung bebend,

sein dreiköpfiges Zwangspublikum mit einer wild-pathetischen

Suada, seine politischen Pläne betreffend. Eine neue Regierung

solle Deutschland bekommen, und er, Adolf Hitler, werde sie einsetzen

und führen. Falls die Anwesenden bereit seien zu kooperieren,

winkten ihnen Ministerposten in seinem Kabinett. Gegen

Ende hob Hitler seine Waffe und drohte melodramatisch: „Vier

Schuss habe ich in meiner Pistole, drei für meine Mitarbeiter,

wenn sie mich verlassen, die letzte Kugel für mich". Er drückte

den Lauf an seine Schläfe und erklärte: „Wenn ich nicht morgen

Nachmittag Sieger bin, bin ich ein toter Mann"2.

1923 lagen fünf Jahre Chaos hinter Deutschland. Die verheerende

Niederlage im Weltkrieg war längst nicht verkraftet; die harten

Friedensbedingungen der Sieger, besonders ihre milliardenhohen

Reparationsforderungen, verbitterten viele. Zwar hatte das

Reich seit 1919 eine parlamentarische Verfassung, doch im Volk

besaß die Demokratie keine feste Basis. Rechte wie Linke feindeten

sie an; man machte sie für die vielen Missstände verantwortlich,

die die junge Republik plagten und nicht zuletzt für die

bedrohlich labilen Wirtschaftsverhältnisse. Namentlich die galoppierende

Inflation zerstörte die Lebensgrundlage zahlreicher Menschen

und trieb nicht wenige in die politische Radikalisierung.

Schon 1920 lag der Preisindex nahezu 15-mal so hoch wie im Vorkriegsjahr

1913; zwei Jahre später erreichte er fast das 350fache.

1923 wurde zum eigentlichen Krisenjahr. Im Westen besetzten die

Franzosen wegen ausgebliebener deutscher Reparationszahlungen

das Ruhrgebiet; passiver Widerstand, gewalttätige Streiks und

Hungerrevolten waren die Folgen. Kaum minder unruhig war es in

den östlichen Landesteilen. Im brandenburgischen Küstrin versuchten

unzufriedene Reichswehr-Einheiten einen Putsch; in Sachsen

und Thüringen hielten sich ein paar Monate prokommunistische

Regierungen. Ein Ende der politischen Instabilität war nicht

abzusehen, die Wirtschaft erwartete ein Sturz ins Bodenlose. Januar

1923 kletterten die Preise auf das 2.500fache ihres Standes von

1913; im Dezember betrug der Steigerungsfaktor über eine Billion

PROLOG

17

(1.250.000.000.000).3 Die Hyperinflation bewirkte den allgemeinen

Zusammenbruch der deutschen Währung, deren Kaufkraft

gegen null tendierte. Ein schlichtes Brot kostete gelegentlich über

400 Billionen Mark. In vielen Haushalten wurden die Inflationsbanknoten

lieber im Ofen verbrannt, als mit ihnen Brennstoff zu

erwerben. Die meisten Deutschen standen finanziell vor dem

Nichts.

Die Situation in Bayern war nicht erfreulicher. Die Umwälzungen

der letzten Jahre hatten bei manchen Bajuwaren separatistische

Gelüste erweckt. Die bayrische Landesregierung in München

ging selbstbewusst eigene Wege, Mahnungen aus Berlin geflissentlich

ignorierend. Was etwa die radikale Rechte betraf, so ließ

die Landesregierung sie relativ ungeniert gewähren. Tatsächlich

hatte die rechte Opposition gegen Berlin in Bayern zwei starke

Machtbasen: die restaurativ-monarchistische ‚alte Rechte‘, vertreten

durch das in München diktatorisch herrschende Triumvirat

Kahr, Lossow und Seißer, und die revolutionär-völkische ‚neue

Rechte‘, vertreten durch Hitler und sein Gefolge. In einer bemerkenswerten

Symbiose verachteten beide die Berliner Zentralmacht,

behinderten sie in trauter Gemeinsamkeit nach Kräften und

konnten es kaum erwarten, endlich zum Aufstand zu blasen. Was

die ersehnte Revolution allerdings bewirken sollte – darüber gingen

die Visionen weit auseinander. Vereinfacht gesagt: Die ‚alte

Rechte‘ wünschte eine unabhängige bayrische Regierung, während

die ‚neue Rechte‘ die Zentralregierung zu übernehmen begehrte.

Die einen wollten ‚los von Berlin‘, die anderen wollten den

‚Marsch auf Berlin‘.

An jenem Abend im Bürgerbräukeller konnte Hitler das regierende

Triumvirat zumindest fürs Erste von seiner Vision einer

nationalen Revolution überzeugen. Etwa eine Stunde konferierten

die vier, dann kehrte Hitler zurück in die Halle und stieg, begleitet

von seinen drei neuen Verbündeten, aufs Podium. Inzwischen war

weitere namhafte Unterstützung eingetroffen: General Ludendorff,

einstmals Erster Generalquartiermeister der kaiserlichen Armee

und seit kurzem Kombattant Hitlers. Auch er betrat die Tribüne.

Immer wieder reichten die fünf einander demonstrativ die Hände,

beteuerten ihre ernsthafte Bereitschaft zur Zusammenarbeit und

den Willen, eine provisorische nationale Regierung zu bilden.

Hatte sich zu Beginn das Auditorium noch skeptisch verhalten,

PROLOG

18

brach es jetzt in hemmungslose Begeisterung aus. Besonders Hitlers

Rede elektrisierte die Leute. Spontan erhob sich der Gesang:

„Deutschland, Deutschland über alles". Die „Stimmung der Mehrheit

hatte völlig umgeschlagen", erinnerte sich später ein Augenzeuge;

„Hitler hatte sie mit einigen Sätzen umgedreht, wie man

einen Handschuh umdreht. Es hatte fast etwas von einem Hokuspokus,

von einer Zauberei"4. Anschließend verlas Rudolf Heß, Hitlers

persönlicher Sekretär, eine Liste mit den Namen prominenter

„Volksfeinde", die zu verhaften und vor Gericht zu stellen seien –

ein Omen künftiger Schrecken. Inzwischen trafen aus der Stadt

zunehmend Sympathisanten ein. Den ersten Akt des Putsches, so

schien es, hatte Hitler erfolgreich überstanden.

Außerhalb der Bierhalle freilich ging die Sache nicht so glatt.

Anfangs glückte den Putschisten einiges. Als die SA-Truppen vor

der Infanterieschule aufmarschierten, liefen die Kadetten zu ihnen

über. Die Räume der führenden Tageszeitung Münchner Post

waren rasch besetzt, desgleichen das Wehrkreiskommando VII im

ehemaligen bayrischen Kriegsministerium – immerhin die

Befehlszentrale des bayrischen Teils der Reichswehr. Auch die

großen Münchner Bierhallen waren eingenommen, doch je weiter

die Nacht vorwärtsschritt, desto spärlicher wurden die Siegesmeldungen.

Mehr strategisch wichtige Punkte vermochte man nicht zu

erobern, keine Kasernen, keine öffentlichen Gebäude. Dies lag

einerseits an der organisatorischen Unfähigkeit der Putschisten,

andererseits an der wachsenden Entschlossenheit der Gegenseite.

Diese machte sich inzwischen zum Kampf bereit, und kaum

hatten Kahr, Lossow und Seißer ihre Handlungsfreiheit wieder,

verurteilten sie den Putsch und setzten sich an die Spitze des

Widerstands. Die aus Sicherheitsgründen kurzfristig nach Regensburg

verlegte Regierung verbot zuerst das Erscheinen der Morgenblätter;

dann orderte sie militärische Verstärkung aus den Provinzen.

Bald kontrollierten die Reichswehrtruppen die ganze Stadt;

sie waren genau instruiert, wie sie der Rebellion begegnen sollten.

Im Bürgerbräukeller richteten sich die Möchtegern-Revolutionäre

auf eine lange Nacht ein. Bei reichlich Bier und belegten Brötchen

hielt sich für eine Weile noch ihr Optimismus. Tatsächlich aber

hatten sie die Initiative verloren und steckten in einem bedrohlichen

Patt.

Ein kalter Morgen dämmerte. Die Putschisten mussten einse-

PROLOG

19

hen, dass ihr Versuch, die Bastionen der Macht zu stürmen,

gescheitert war. Ein Korrespondent der Londoner Times ging an

eben jenem Morgen zum Bürgerbräukeller, wo er Hitler und

Ludendorff in einem kleinen Zimmer des Obergeschosses fand.

Hitler, schrieb er, sei „todmüde" gewesen; „dieser kleine Mann im

alten Regenmantel mit einem Revolver an der Hüfte, unrasiert und

ungekämmt, so heiser, dass er kaum sprechen konnte", habe sichtlich

Mühe gehabt, den agilen Revolutionär zu geben. Ludendorff

wiederum erschien ihm „nachdenklich und besorgt"5.

Die Putschisten berieten, was zu tun sei. Einer schlug vor, den

bayrischen Kronprinzen um Unterstützung anzugehen. Ein anderer

empfahl den taktischen Rückzug nach Rosenheim nahe der österreichischen

Grenze. Draußen zerfaserte der Aufstand zusehends;

Befehle wurden nur noch schleppend befolgt, und immer mehr

Trupps verließen ihre Posten, da sie ihre Sache verloren glaubten.

Irgendwann an diesem Vormittag kam im Bierhallenquartier jener

Gedanke auf, der vielen als die rettende Idee erschien: ein

Demonstrationsmarsch durch die Innenstadt. So könnte man nicht

nur die Kameraden befreien, die das Wehrkreiskommando besetzt

hatten und dort in der Falle saßen, sondern auch die Münchner

Bevölkerung mitreißen und das Patt brechen. Die Armee, kalkulierte

man, stelle kein wirkliches Problem dar: Nie würde sie ihre

Maschinengewehre gegen Ludendorff richten, den prominentesten

General des Weltkriegs. Die Hitzköpfe erwogen sogar, bei hinreichender

Mobilisierungskraft den ‚Marsch auf Berlin‘ zu wagen –

nach dem Vorbild Mussolinis, der ein Jahr zuvor mit seinem

‚Marsch auf Rom‘ die Macht erobert hatte. In dem gegen ihn und

seine Kombattanten geführten Prozess sagte Hitler einige Monate

später aus, „man habe den Entschluss zum Marsch in die Stadt

gefasst, um das Volk für sich zu gewinnen"6.

Es ging auf Mittag zu, als sich vom Bürgerbräukeller aus ein

etwa 2.000 Mann starker Zug Richtung Innenstadt bewegte, alle

bewaffnet, alle finster und unbeugsam dreinschauend. Unter

Hakenkreuzfahnen und schwarz-weiß-roten Reichskriegsflaggen

marschierten in der ersten Reihe: Hitler und Ludendorff an der

einen Seite; an der anderen Max von Scheubner-Richter, Hitlers

enger Vertrauter und Berater; dazwischen der stiernackige Ulrich

Graf, gelernter Metzger, später Amateurringer, jetzt Leibwächter

Hitlers, der Nazi-‚Philosoph‘ Gottfried Feder und der Führer der

PROLOG

20

Münchner SA-Trupps, Hermann Göring, in einem eleganten knöchellangen

Ledermantel, den er offen ließ, so dass der Pour-le-

Mérite-Orden am Hals gut sichtbar war (er hatte sich diese höchste

deutsche militärische Auszeichnung als Flieger im Weltkrieg

erworben). Dahinter marschierten in Viererkolonnen Hitlers

Sicherheitskräfte: das Münchner SA-Regiment und der gleichfalls

paramilitärisch organisierte ‚Bund Oberland‘. Ein mit Waffen voll

beladener Wagen begleitete sie. Die Nachhut bildete ein bunt

zusammengewürfelter Haufen aus sympathisierenden Studenten,

Geschäftsleuten und Veteranen. Einige waren bereits ‚alte Kämpen‘

der nationalen Sache, andere schlicht zufällige Mitläufer, die

die Nervenkitzel versprechenden Ereignisse der vergangenen

Nacht zur Teilnahme inspiriert hatten. Manche trugen eine fesche

Uniform, manche ihre Ehrenzeichen aus dem Krieg, andere trotteten

in ihrem Arbeitszeug daher.

Von den neugierigen Münchnern bald bejubelt, bald verhöhnt,

schritten die Putschisten tapfer aus, wobei sie sich durch das

Absingen nationalistischer Lieder Mut machten. An der Isar

erwartete sie ein Polizeikordon, der die Ludwigsbrücke sperrte.

Drohend senkten einige Kämpfer ihre Bajonette; andere traten den

Beamten mit dem Mahnruf entgegen, nicht auf Kameraden zu

schießen. Da die Angesprochenen zögerten, wurden sie schlicht

überrannt. Der Zug passierte ungehindert die Brücke und setzte

seinen Weg durchs Isartor ins Herz Münchens fort zum Marienplatz,

wo sich eine riesige Menschenmenge versammelt hatte, die

schaulustig verfolgte, was sich da entwickelte. Die Marschkolonne

wandte sich nun nordwärts Richtung Odeonsplatz; von dort aus

wären es nur noch knapp 50 Meter bis zum Ziel gewesen, dem

Wehrkreiskommando im alten Kriegsministerium an der Ludwigstraße.

Schon schritt man durch die enge Residenzstraße, an deren

Ende die Feldherrnhalle liegt, eine 1841-1844 erbaute Ehrenstätte

zur Würdigung des bayrischen Militärs mit einer zum Odeonsplatz

hin offenen Loggia. Neben diesem Monument hatte eine zweite,

größere Polizeikette Posten bezogen und den Weg verstellt. Die

Demonstranten hakten sich unter und stürmten los; einige sangen,

einige senkten wieder die Bajonette.

Diesmal ließ sich die Staatsmacht nicht überrennen. Als die

Ordnungskräfte und die Verschwörer vor der Feldherrnhalle

zusammenstießen, knallte ein Schuss. Sofort eröffnete die Polizei

PROLOG

21

das Feuer, das die Gegenseite heftig erwiderte. Ein wildes Gefecht

brach los. Schon bei der ersten Salve der Gendarmen sank die vorderste

Reihe der Putschisten nieder; die übrigen flohen. Wer nach

ein paar Minuten noch dalag, war entweder tot oder schwer verletzt.

Göring erhielt eine Kugel in den Oberschenkel. Scheubner-

Richter, der sich links bei Hitler eingehakt hatte, wurde tödlich in

die Brust getroffen und riss den Putschistenführer mit zu Boden.

Graf, der während der Attacke Hitler mit seinem Körper deckte,

erlitt zahlreiche gravierende Schusswunden. Achtzehn Menschen

kostete der Kampf das Leben: vier auf Seiten der Polizei, vierzehn

auf Seiten der Gefolgsleute Hitlers. Karl Laforce, der jüngste der

Putschisten, die vor der Feldherrnhalle starben, war gerade erst

neunzehn.

Hitler, im Tumult gestürzt, stand eine ganze Weile nicht wieder

auf, so dass unter den Seinen schon das verzweifelte Gerücht die

Runde machte, er sei tot. Zunächst hatte der Putschistenführer

selbst eine schwere Schussverletzung vermutet; tatsächlich rührten

seine Schmerzen aber von einer verrenkten Schulter her. Der sterbende

Scheubner-Richter hatte im Fallen so heftig an Hitlers linkem

Arm gezerrt, dass dieser aus dem Gelenk gesprungen war.7

Obwohl stark angeschlagen, rappelte sich Hitler schließlich wieder

hoch und schleppte sich zu einem nahe gelegenen Platz, wo ein

paar seiner Anhänger in einem Auto warteten, die ihn, nicht ohne

Schwierigkeiten, aus München herausschafften. Man fuhr südwärts,

Richtung Österreich. Die abenteuerliche Flucht endete am

Nachmittag im oberbayrischen Uffing; Hitlers wohlhabender

Freund und Förderer, der Kunsthändler Ernst ‚Putzi‘ Hanfstaengl

(später Hitlers Pressechef), besaß dort ein Landhaus. Ein herbeigerufener

Arzt und Sympathisant Hitlers versorgte notdürftig die

Verletzung.

Zwei Tage später, in den frühen Abendstunden des 11. November,

hatte die Staatsmacht den Oberputschisten aufgespürt. Augenzeugen

berichten, dass Hitler zusammenbrach, als er hörte, die

Polizei stehe vor der Tür. Mit dem Ruf: „Nun ist alles verloren!"

griff er nach seiner Pistole.8 Doch statt sich zu erschießen, wie er

im Bürgerbräukeller versichert hatte, fügte Hitler sich widerstandslos,

als ein Polizeioffizier eintrat und ihn für verhaftet

erklärte. Schauplatz der Diensthandlung war ein Schlafzimmer, wo

Hitler im Pyjama, schweigend und düster dreinschauend, seine

PROLOG

22

Festnahme erwartete.9

Hitlers ‚nationale Revolution‘ lag in Scherben. Ihr Führer war

dem Tod entronnen, aber gescheitert; seine Partei war verfemt,

seine treusten Gefolgsleute waren tot, eingesperrt oder außer Landes

geflohen. Knapp ein Vierteljahr nach den Ereignissen stellte

man ihn wegen Hochverrats vor Gericht; das Urteil: fünf Jahre

Festungshaft, zu verbüßen in Landsberg am Lech. Die meisten

zeitgenössischen Beobachter kamen übereinstimmend zu dem

Schluss, das Phänomen Adolf Hitler werde wohl eine Fußnote in

der deutschen Geschichte bleiben als Schimäre oder einer jener

fanatischen Spinner, von denen die Historie viele kennt, die mit

radikalem und revolutionärem Gelärme kurz Aufmerksamkeit

erregten, aber nichts bewirkten. Die Londoner Times erklärte Hitler,

den sie verachtungsvoll als „Anstreicher und Demagogen"

titulierte, für politisch erledigt.10 Nicht wenige sprachen von ihm

nur noch in der Vergangenheitsform. Nach dem misslungenen

Putsch 1923 fiel, so erinnert sich später der Schriftsteller Stefan

Zweig, „der Name Adolf Hitler [...] in Vergessenheit zurück"11.

Hitler selbst schien gegen sämtliche negativen Orakel immun.

Wie er während seines Verfahrens gegenüber dem Staatsanwalt

provozierend herausstrich, wusste er sich zu Höherem berufen.

„Mögen Sie uns tausendmal schuldig sprechen", wetterte er, „die

Göttin des ewigen Gerichts der Geschichte wird lächelnd den

Antrag des Staatsanwaltes und das Urteil des Gerichtes zerreißen,

denn sie spricht uns frei"12. Der Kugelhagel der bayrischen Polizei,

der seine Truppen in München niedergeworfen hatte, gab ihm erstmals

Gelegenheit, die ‚Vorsehung‘ zu bemühen. Hitler zog aus

dem Putschversuch, der blutigen Niederlage und der Haft in

Landsberg eigene Schlüsse und den unerschütterlichen Glauben,

das Schicksal habe ihn gezielt verschont, um seine ‚historische

Bestimmung‘ zu erfüllen, Deutschland zu retten. Er war nun ein

Mann mit einer Mission.

PROLOG

23

 

 

 

hagalil.com 06-12-07











 

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