Zwischen Prag und
Brooklyn:
"Schnee im August"
Ein 12-jähriger irischer Junge und ein Rabbi aus Prag treffen sich im
New Yorker Stadtteil Brooklyn. Beide verbindet die Liebe zu Märchen,
Sagen und Legenden und beide haben einen Geliebten Menschen verloren.
Die Geschichte des 20. Jahrhunderts spiegelt sich in allen ihren
schrecklichen aber auch wunderbaren Seiten in diesem Kinderbuch wieder.
Winter 1946: Ein Schneesturm fegt durch
die Straßen von Brooklyn, aber als Meßdiener muß der zwölfjährige Michael Devlin
irgendwie zur Kirche kommen. Als er an der Synagoge des Viertels vorbeieilt,
sieht er in der Tür den Rabbi, der ihn zu sich winkt. Es ist Sabbat, und Rabbi
Hirsch braucht jemanden, der ihm das Licht anmacht. Mit Herzklopfen betritt
Michael die unheimliche Synagoge. Was anfängt wie das Abenteuer eines der von
ihm so bewunderten Comic-Helden, wird für Michael bald zum Fenster in die
fremde, magisch anziehende Welt von Rabbi Hirsch, der gerade erst dem Grauen
Europas entkommen ist. Michael wird sein "Schabbes-Goi", hilft ihm, sich in der
Neuen Welt zurechtzufinden, erklärt ihm amerikanische Bräuche, Baseballregeln
und Grammatik. Umgekehrt beschwört
der Rabbi das Leben und die Geschichte von Prag herauf, erzählt von
Mozart und der Kabbala und endlich auch von der uralten Legende des
Golem. Zum ersten Mal erfährt Michael etwas von jüdischer Weisheit und
Tradition. Doch als er davon erzählen will, eckt er bei seinen
irisch-katholisch geprägten Schulfreunden schnell an.
Michael wächst ohne seinen Vater auf, der im Krieg gegen Deutschland
gefallen ist und findet in Rabbi Hirsch mehr als einen guten Freund. Der
Rabbi verlor seine Frau, die von den Nazis getötet wurde, viel Zeit
vergeht bis Michael die ganze schmerzhafte Geschichte hört. Und viel
Zeit vergeht bis die Erinnerung an die beiden geliebten Toten zu neuer
ungeahnter Kraft verhelfen wird.
Michael hat in der Zwischenzeit große Sorgen. Er wird Zeuge, als Frankie
McCarthy und seine Gang den Ladenbesitzer Mr. G., einen Juden, beraubt
und halb tot schlägt. Völlig eingeschüchtert von den Drohungen der Gang,
schweigt er jedoch bei der Polizei, auch als die Dinge schlimmer werden.
Den ganzen Sommer über terrorisiert Frankies Gang das Viertel: die
Rowdys malen Hakenkreuze an die Synagoge, verprügeln Michael als
"Verräter" und belästigen sogar seine Mutter.
Michael muß etwas unternehmen, er greift zu einem Mittel, gegen das die
Gang keine Chance hat, heraufbeschworen aus den Geschichten seines
mittlerweile besten Freundes Rabbi Hirsch.
Eine einfache Geschichte von Freundschaft und Erwachsenwerden, aber auch
ein Konflikt, der wie im Brennglas die großen Fragen aufwirft - nach Mut
und Vorurteilen, Anpassung und Widerstand. Poetisch beschwört der Autor
die Kraft der Worte und des Glaubens. Pete Hamill wuchs selbst im New
Yorker Stadtteil Brooklyn auf und ist heute Chefredakteur der New York
Daily News.
Pete
Hamill: Schnee im August
Aus dem Amerikanischen von Christine Strüh. 400 Seiten.
ISBN 3-203-78008-9. Lübbe Verlagsgruppe, 9/1998.
Leseprobe:
Auf einmal hörte Michael Devlin eine Stimme.
Eine menschliche Stimme.
Nicht den Wind, sondern die erste menschliche Stimme, die an sein Ohr
drang, seit er von zu Hause losgegangen war.
Er hielt inne und sah sich in der
menschenleeren Welt um.
Und dann entdeckte er durch das eisige Schneetreiben hindurch einen
Mann, der aus der Seitentür der Synagoge spähte. Einen Mann mit einem
Bart. In einem schwarzen Anzug. Wie der Mann, der Billy Batson aus dem
dunklen Eingang der U-Bahn zu sich rief. Er winkte Michael.
"Hallo, hallo!" rief der bärtige Mann, und seine Stimme schien aus
großer Entfernung zu kommen, nicht nur von der anderen Straßenseite.
"Hallo!" Wie aus einem anderen Land.
Michael stand da wie angewurzelt.
Der Mann winkte.
"Hallo!" rief der Mann. "Bitte zu kommen herüber..."
Die Stimme klang sehr alt und wurde durch das Schneegestöber gedämpft.
Aber es war eine Stimme, so klar und direkt wie ein Zauberbann. Noch
immer rührte Michael sich nicht von der Stelle. Die Stimme kam aus der
Synagoge, dem geheimnisvollen Gebäude, in dem die Juden ihren Gott
anbeteten. Hundertmal war Michael daran vorbeigekommen, aber außer am
Samstag morgen waren die Türen fast immer geschlossen. In gewisser Weise
gehörte die Synagoge gar nicht zum Bezirk, jedenfalls nicht wie die
Sacred-Heart-Kirche oder das Venus-Kino oder Casement's Bar. Die
Synagoge stand ganz normal in der Kelly Street, aber Michael hatte immer
das Gefühl, jemand hätte sie in einer dunklen Nacht dort an der Ecke
abgestellt.
Aber nicht nur das. Für Michael hatte die Synagoge etwas vage
Bedrohliches, als fänden hinter ihren geschlossenen Türen irgendwelche
geheimen Riten, ja vielleicht sogar schreckliche Verbrechen statt.
Sagten nicht alle in der Ellison Avenue, daß die Juden Jesus umgebracht
hatten? Und wenn sie den Sohn Gottes getötet hatten, was würden sie dann
wohl einem ganz gewöhnlichen Jungen antun, der in einem Schneesturm
herumirrte? Auf einmal sah Michael vor sich, wie der bärtige Mann ihn
fesselte und in einen großen Ofen schubste oder einmauerte, wie der Kerl
im "Sarg von Amontillado". Er sah die Schlagzeile in der Daily News:
JUNGE IM SCHNEESTURM VERSCHWUNDEN. Hastig ging er weiter.
Aber der bärtige Mann rief ihn schon wieder.
"Bitte!"
Michael blieb stehen. In dem einfachen Wort bitte schwang etwas mit,
Verzweiflung, als ginge es um Leben und Tod. Schmerz klang darin,
Traurigkeit. Vielleicht war der bärtige Mann einfach nur das, was er zu
sein schien: ein bärtiger Mann, der in einem Schneesturm um Hilfe rief.
Kein Abgesandter des Teufels. Er und Michael waren wie zwei Menschen in
der unberührten Arktis, zwei winzige Punkte in der gespenstischen Einöde
einer toten Welt.
Wenn ich jetzt weglaufe, dachte Michael, dann nur aus einem Grund: weil
ich Angst habe. Malemute Kid würde nicht abhauen. Genausowenig wie Billy
Batson. Mist, wenn Billy Batson vor dem Mann im schwarzen Anzug
weggelaufen wäre, wäre er nie Captain Marvel geworden. Und mein Vater,
Tommy Devlin – er würde niemals weglaufen. Nicht vor tausend
gottverdammten Nazis. Und schon gar nicht vor einem Mann, der mit einer
solchen Stimme bitte sagte.
Also ging Michael über die Straße, sich mühsam auf den Beinen haltend,
fand im Schneegewirbel die Wand der Synagoge und tastete sich zur
Seitentür vor. Jetzt sah er das Gesicht des bärtigen Mannes deutlicher.
Unter dem schweren schwarzen Hut blickten blaue Augen durch eine dicke
Hornbrille. Durch die kleine Nase wirkte sein Bart größer und dichter,
als wäre er aus Holz geschnitzt. Er war dunkel, mit rostbraunen und
grauen Strähnen, aber Michael konnte nicht beurteilen, wie alt der Mann
war. Er stand unter dem Türrahmen, und ein dunkler Tweedmantel hing lose
um seine Schultern. Alles, was er anhatte, war schwarz.
"Bitte", sagte er. "Ich bin der Rabbi. Ich brauche eine Hilfe. Kannst du
mir eine Hilfe geben?"
Ängstlich kam Michael näher. Der Wind hörte abrupt auf, als wollte er
Atem holen. Michael starrte den bärtigen Mann an, sah seine schmutzigen
Fingernägel, die verschlissenen Aufschläge seines Mantels und fragte
sich erneut, welche dunklen Geheimnisse hinter ihm in der Synagoge
lauerten.
"Nun, wissen Sie, Rabbi, ich –"
"Eine Minute es dauert nur", unterbrach ihn da der Rabbi.
Zitternd vor Angst, Neugier und Kälte suchte Michael nach Worten.
"Ich bin Meßdiener oben in der Sacred-Heart-Kirche", sagte er
schließlich. "Verstehen Sie, ich bin katholisch. Und ich bin spät dran
für die Achtuhrmesse und –"
"Nicht mal eine Minute", fiel ihm der Rabbi ins Wort. "Bitte", fügte er
hinzu und zog den Mantel enger um sich. "Bitte."
Michael spähte an ihm vorbei in die
unbeleuchtete Halle. Eine etwa ein Meter fünfzig hohe Holzvertäfelung,
oben mit einer Leiste abgeschlossen, darüber eine cremeweiß gestrichene
Wand. Und wenn er jetzt Svengali ist, dachte er, der Bärtige aus dem
Film, der die Leute hypnotisiert? Oder einer wie Fagin aus Oliver Twist,
der Kinder für sich stehlen ließ? Aber nein – seine Stimme klang nicht
nach einem dieser Halunken. Plötzlich kam der nächste Windstoß, wie ein
Signal. Außerdem, dachte Michael, außerdem kann ich ihn zur Not immer
noch die Treppe runterschubsen. Ihm die Brille von der Nase schlagen.
Die Tür aufstoßen. Oder ihn in die Eier treten. Bumm! Er wußte, daß er
sich selbst gut zuredete, um seine Angst zu überwinden.
"Okay", sagte Michael abrupt. "Aber es muß wirklich schnell gehen. Was
soll ich machen?"
Der bärtige Mann öffnete die Tür weit, und Michael trat ein. Ohne Wind
war es bedeutend wärmer. Drei Stufen führten nach unten, und er blieb
unschlüssig am Rand der obersten stehen.
"Ein wenig Licht, das wäre gut, ja?" sagte der Rabbi und wedelte mit der
Hand.
"Vermutlich schon."
"Da, siehst du?" Michael
ging eine Stufe weiter hinab und spähte durchs Halbdunkel zur rechten
Wand. In der dunklen Holzverkleidung war ein Schalter. Der Rabbi machte
nervöse Handbewegungen, als wollte er ihn betätigen, ohne ihn dabei
anzufassen.
"Sie meinen, ich soll das Licht anmachen?" fragte Michael.
Der Rabbi nickte. "Ist... eh ... ist dunkel, nein?"
Plötzlich wurde Michael wieder vorsichtig.
"Warum machen Sie das Licht denn nicht an?"
"Ist nicht ... nicht erlaubt", antwortete der bärtige Mann, als fiele es
ihm schwer, das richtige Wort zu finden. "Heute ist Schabbes, weißt du,
und – ist ganz einfach, nein? Nur –"
Er stocherte mit den Fingern in der Luft herum. Michael holte tief Luft,
trat die letzten beiden Stufen hinunter und betätigte den Schalter.
Sofort war der Raum von einer Kugellampe über ihnen hell erleuchtet. Sie
standen in einer kleinen Vorhalle; auf der gegenüberliegenden Seite
führten drei Stufen zu einer anderen Tür. Der cremefarbene
Deckenanstrich war rissig und bröckelte ab. Michael atmete langsam aus.
Keine Bombe war explodiert. Keine Stahlwände waren aus der Decke
herabgekommen.
Keine Falltür hatte sich unter ihm geöffnet, er war in kein Verlies
gestürzt. Der Lichtschalter war ein Lichtschalter. Der Rabbi lächelte,
wobei er unregelmäßige gelbliche Zähne entblößte, und sah sehr zufrieden
aus. Michael fühlte sich entspannt und warm.
"Danke dir, danke dir", sagte der Rabbi. "A dank. Sehr guter Junge bist
du. Du bist saier gut-hartsik... Sehr gut"
Dann deutete er auf die Leiste über der Holzvertäfelung.
"Ist für dich", meinte er. "Bitte zu nehmen. Für dich."
Es war ein Fünfcentstück, das im
Licht leise schimmerte.
"Für dich", wiederholte der Rabbi.
"Aber nein, das ist doch nicht nötig..."
"Bitte."
Wieder wurde Michael nervös, jetzt wegen der Zeit und weil er noch vier
Blocks durch den Schneesturm vor sich hatte. Er nahm das Geldstück und
steckte es in die Manteltasche.
"Auf Wiedersehen", sagte der bärtige Mann. "Und danke dir."
"Gern geschehen, Rabbi."
Damit öffnete Michael die Tür und eilte in den Sturm hinaus. Aber er
fühlte sich größer, stärker und mutiger als vorhin.
aue / haGalil onLine 15-04-2002 |