
Ines Lehmann, Die deutsche Vereinigung von außen gesehen.
Angst, Bedenken und Erwartungen in der ausländischen Presse. Band I: Die
Presse der Vereinigten Staaten, Großbritanniens und Frankreichs.
Frankfurt 1996,
Peter Lang Verlag, ISBN 3-631-30251-7, 777 S., 86.- €
Ines Lehmann, Die deutsche Vereinigung von außen gesehen. Angst, Bedenken
und Erwartungen in der ausländischen Presse. Band II: Die Presse
Dänemarks, der Niederlande, Belgiens, Luxemburgs, Österreichs, der
Schweiz, Italiens, Portugals, Spaniens und jüdische Reaktionen.
Frankfurt 1997,
Peter Lang Verlag, ISBN 3-631-30968-6, 539 S., 57.- €
Ines Lehmann, Die deutsche Vereinigung von außen gesehen. Angst, Bedenken
und Erwartungen. Band III: Die Politik, die Medien und die öffentliche
Meinung der Sowjetunion. Frankfurt 2001,
Peter Lang Verlag,
ISBN 3-631-35933-0, 475 S., 69.- €
Ines Lehmann, Die deutsche Vereinigung von außen gesehen. Angst, Bedenken
und Erwartungen. Band IV: Polen und die Tschechoslowakei. Frankfurt
2004,
Peter Lang Verlag,
ISBN 3-631-37902-1, 468 S., 59.80 €
Knappe Auszüge aus den Bänden sind unter
www.ines-lehmann-deutsche-vereinigung-von-aussen-gesehen.de
einsehbar. |
Dokumentation:
Die deutsche Vereinigung von außen gesehen
Von Martin Jander
Erschienen in:
H-Soz-u-Kult, 28.01.2005
Dokumentationen zur Vereinigung beider deutscher
Staaten gibt es in großer Anzahl. Nur wenige sind jedoch so originell wie
die 4 Bände umfassende und erst 2004 abgeschlossene der Politologin Ines
Lehmann. Sie hat ihrer Arbeit den Titel "Die deutsche Vereinigung von außen
gesehen" gegeben. Eigentlich geht es aber um mehr, und eben das ist die
unverwechselbare Leistung der Autorin: Hier werden Ängste, Befürchtungen,
aber auch Erwartungen im Zusammenhang der Vereinigung beider deutscher
Staaten dokumentiert, die in Gesellschaften publiziert und diskutiert
wurden, die während des Nationalsozialismus Opfer und/oder Gegner des
Deutschen Reichs waren.
Auf insgesamt 2259 Seiten erhält der Leser Einblick in die Kontroversen und
Debatten von 16 nationalen Gesellschaften. Besonderes Augenmerk hat Lehmann
dabei auf die veröffentlichte Meinung gelegt. Sie begründet das wie folgt:
"Wenn man sich ein Bild von den Einstellungen eines Landes gegenüber der
deutschen Vereinigung machen will, sollte man sich nicht gerade auf
Verlautbarungen und Handlungen der offiziellen Politik verlassen, denn
Regierungen sagen und tun öffentlich nicht unbedingt das, was sie denken
oder befürchten, sondern das was politisch opportun ist. […] Gefühle und
Gedanken wie Ängste und Bedenken gegenüber einem anderen Land bzw. Volk
kommen dagegen schon eher in der öffentlichen und in der veröffentlichten
Meinung einer Gesellschaft zu Ausdruck." (Band 1, S. 3f.)
In einigen Fällen – wie z. B. der Sowjetunion – konnte die Presse zum
Zeitpunkt der deutschen Vereinigung zwar nicht als Gradmesser des
gesellschaftlichen Gedächtnisses und der kollektiven Erinnerung angesehen
werden. Angesichts der Alternativen hat sich Ines Lehmann dann für das
Verfahren entschieden, Meinungsäußerungen der Politik denjenigen von Medien
und der Bevölkerung (soweit greifbar) gegenüberzustellen. (Vgl. Band 3, S.
9f.)
Im ersten Band, der die USA, Großbritannien und Frankreich analysiert, wird
hervorgehoben, dass die westliche Führungsmacht die Vereinigung zwar
unterstützte, aber nur unter präzisen Bedingungen (NATO-Mitgliedschaft
Gesamtdeutschlands, EU-Mitgliedschaft, Abwicklung in Kooperation mit den
Alliierten, Anerkennung der polnischen Westgrenze sowie ein friedlicher und
nicht überstürzter Verlauf des Vereinigungsprozesses). Die journalistische
Begleitung des Vereinigungsprozesses in der öffentlichen Meinung fiel häufig
sehr kritisch aus. Insbesondere die Furcht vor einem antidemokratischen
Rückfall des vereinigten Deutschland beschäftigte die Presse.
Großbritannien und Frankreich schlossen sich den USA nur zögernd und nur
unter den genannten Bedingungen an, obwohl sie sich, in den Jahrzehnten vor
dem Umbruch 1989, in verschiedenen Verträgen zu einer Unterstützung der
friedlichen Vereinigung verpflichtet hatten. In Großbritannien löste der
deutsche Vereinigungsprozess eine tiefe Erschütterung des
Selbstverständnisses aus; man fürchtete um die eigene weltpolitische Rolle.
Entsprechend kritisch reagierte die Zeitungswelt. In Frankreich löste die
Entwicklung in beiden deutschen Staaten gar eine nationale Krise aus. Man
stemmte sich besonders lange, wenn auch erfolglos, gegen die Vereinigung.
Die französische Presse reagierte mit unvergleichbar großem Aufwand.
Nirgendwo in Europa wurden mehr Bedenken und Ängste artikuliert.
Der deutsche Vereinigungsprozess löste nicht nur in Großbritannien und
Frankreich, sondern überall in Westeuropa zunächst Erschrecken und
Verwirrung aus. Schließlich hatte die Teilung Deutschlands und des
Kontinents in Europa lange Zeit einen Frieden ermöglicht, der in dieser
Qualität vorher unbekannt war. Von EG- und NATO-Staaten wurde eine
Zustimmung erst auf der Helsinki-Konferenz im November 1990, nach der
Vereinigung, eingeholt. Staaten, die sich am Prozess der außenpolitischen
Regelung der deutschen Einheit selbst beteiligen wollten, wie z. B. die
Niederlande und Italien, wies die Bundesregierung zurück. Die meisten
Einwände und Befürchtungen wurden in diesen Gesellschaften im Zusammenhang
des Herbsts 1989, sozusagen im Moment des ersten Schocks, artikuliert und
später im Umkreis der Ottawa-Konferenz im Februar 1990, als der "2+4"
Lösungsmechanismus verkündet und damit eine Beteiligung von anderen Ländern
ausgeschlossen wurde.
Die Bürger Israels und Überlebende des Holocaust aus anderen Ländern, deren
Reaktionen ebenfalls im zweiten Band beschrieben werden, wurden von den
deutschen Staaten im Einigungsprozess überhaupt nicht befragt. Auch der
damalige israelische Ministerpräsident Izchak Schamir hatte sich vehement
gegen eine deutsche Vereinigung gewandt und vor deren Folgen gewarnt. Solche
Ängste und Befürchtungen wehrte die Bundesrepublik besonders heftig ab.
Helmut Kohl vergaß in seiner Zurückweisung nicht, darauf hinzuweisen, dass
Israel sich lange deutscher Unterstützung erfreue, und sich dies auch in
Zukunft nicht ändern solle. So war ein erpresserischer Unterton nicht
überhörbar.
Im dritten Band, der die Sowjetunion zum Gegenstand hat, wird
herausgestellt, dass dem Land, das sich immer gegen eine Vereinigung
Deutschlands unter westlichen Vorzeichen gewehrt hatte, während des
Vereinigungsprozesses selbst - durch den immer schneller voranschreitenden
eigenen Zerfall - die Machtmittel für die bisherige Obstruktionspolitik aus
den Händen glitten. Im Austausch gegen Geld und Kooperations- sowie
Freundschaftsverträge gab man jedoch schließlich nach. In den zugänglichen
Meinungsumfragen zeichnete sich eine überraschend hohe Zustimmung zur
deutschen Vereinigung ab.
Im vierten und letzten Band werden schließlich Polen und die
Tschechoslowakei abgehandelt. In Polen - wo bereits im Sommer 1989 der
Übergang zu demokratischen Verhältnissen eingeleitet worden war - fürchtete
man, hervorgerufen durch Kohls langes Zögern, erheblich um die Anerkennung
der eigenen Westgrenze. Entsprechend kritisch fiel die mediale Rezeption des
deutschen Vereinigungsprozesses aus. Polen wurde deshalb auch zu dem Teil
der Beratungen des "2+4"-Prozesses hinzugezogen, bei dem über die polnische
Westgrenze verhandelt wurde.
In der Tschechoslowakei waren die medialen Reaktionen vor allem davon
bestimmt, dass die "samtene Revolution" sich erst mit dem 17. Dezember 1989
durchsetzte. Bis dahin war die veröffentlichte Meinung noch vom
sozialistischen Regime bestimmt. Nach dem Sieg von Vaclav Havel und seinen
Partnern entwickelte sich die Tschechoslowakei einschließlich ihrer Presse
zu einem Vorkämpfer der Einigung Deutschlands. Nur so könnte man schließlich
selbst Teil eines freien Europas werden. Als Havel jedoch eine
Entschuldigung für die Vertreibungen am Ende des Krieges formulierte,
erntete er heftigen Widerspruch.
Sehr schade ist, dass die Autorin den einzelnen Länderstudien keine
gerafften Überblicksdarstellungen der ganz verschiedenen Erfahrungen der
unterschiedlichen Gesellschaften mit dem deutschen Nationalsozialismus und
den zwei Weltkriegen beigefügt hat. Die Analyse verbleibt deshalb vor allem
auf der Ebene der Machtverschiebungen in Europa während des deutschen
Einigungsprozesses. Die Präsenz dieser Erfahrungen der nationalen
Gesellschaften, die erledigten und die unerledigten Ansprüche an
Reparationen und vieles mehr, stehen deshalb nicht im Mittelpunkt der
Darstellung.
Die eigentliche Stärke der Arbeit besteht darin, viele Details des deutschen
Vereinigungsprozesses dem Vergessen zu entreißen. Erwähnt sei hier zum
Beispiel die Initiative des Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in
Deutschland vom August 1990, der in einer Präambel des deutsch-deutschen
Einigungsvertrages einen Passus eingefügt wissen wollte, in dem an den
Völkermord an den europäischen Juden erinnert werden sollte. Die Vereinigung
sollte, so Galinski, "im Bewusstsein der Kontinuität deutscher Geschichte
und besonders eingedenk der zwischen 1933 bis 1945 […] begangenen
Gewalttaten mit der sich daraus ergebenden Verpflichtung gegenüber allen
Opfern und der Verantwortung für eine demokratische Entwicklung in
Deutschland, die der Achtung der Menschenrechte und dem Frieden verpflichtet
bleibt" (zitiert in Band 2, S. 409), vollzogen werden. Ein in der Tat
zentrales Versäumnis des Einigungsprozesses.
Diese wohl ungewöhnlichste Dokumentation des deutschen Vereinigungsprozesses
gehört vor allem in die Hände von Schülern, Studenten und Lehrenden der
Geisteswissenschaften und deshalb auf jeden Fall in die Bibliotheken von
Universitäten und Schulen. Die Autorin holt mit der Dokumentation nach, was
in der alten Bundesrepublik und der DDR während des Einigungsprozesses
1989/90 nicht geschehen ist. Da ein Friedensvertrag mit Gegnern und Opfern
des Nationalsozialismus ausblieb, hat eine Konfrontation der deutschen
Bevölkerung mit den Ängsten, Befürchtungen und Erwartungen aus Ländern wie
Israel und Polen 1989/90 so gut wie nicht stattgefunden. Man hätte - so die
Konstruktionsidee der Politologin Ines Lehmann - diese Ängste und
Befürchtungen auch als Leitplanken mit auf den Weg in die deutsche Einheit
nehmen können.
hagalil.com
10-02-05 |