Von Inge Schott
Timm schreibt dieses Buch, um einem Gespenst seiner Kindheit auf die
Spur zu kommen. Sein 16 Jahre älterer Bruder, in der Ukraine als
Angehöriger der SS-Totenkopfdivision gefallen, begleitet ihn seit seiner
frühesten Kindheit. Zunächst ist der Bruder abwesend, weil er sich
bereits an der Front befindet, später ist er es dann durch seinen Tod.
Doch in der Sprache der Eltern lebt er unüberhörbar weiter und
beeinflusst Uwe Timms Leben bis heute.
Geblieben sind dem Autor die Briefe des Bruders an die Eltern und an
ihn selbst als Kind, sowie die Aufzeichnungen in dessen Tagebuch und
immer wieder die Erinnerungen an die Worte – gesprochene, aber vor allem
nicht gesprochene – der Eltern.
Uwe Timm bedient sich einer fragmenthaften Erzähltechnik, die seine
Erinnerungen wiederspiegelt. Es dominiert das Fragen, nicht das Wissen.
Und, besonders deutlich, es dominiert Distanz. Eine Distanz, die nur
mühevoll in wenigen Fällen überwunden wird, indem der Autor die Begriffe
"ich", "mein Bruder", "meine Eltern" verwendet, meist ist die Rede von
"dem Bruder, dem Vater, der Schwester" etc., gerade so, als stünde der
Autor neben sich, um zu erzählen.
Erste Versuche, seine Eltern zum Bruder zu befragen, werden abgewehrt
mit den Worten "Man soll über Tote nicht sprechen.", obwohl der Bruder
doch permanent Thema ist: die Zuverlässigkeit des Sohnes, die Güte des
großen Bruders, die Artigkeit des Heranwachsenden in der Retrospektive
der Eltern. Dennoch ist da ihre Angst vor mehr Wissen über den Bruder
und davor, die eigene Vergangenheit aus heutiger Perspektive zu sehen.
Sie zieht sich durch das Buch ebenso, wie sie sich durch Uwe Timms Leben
gezogen hat. Mit den Worten "Man soll über Tote nicht reden." gibt die
Mutter ihm zu verstehen, dass es da mehr zu wissen gibt, aber sie will
es nicht wissen und nicht darüber sprechen. Dies gibt Timm auch als
Grund dafür an, dass er sein Buch erst heute schreibt, erst, nachdem
seine Eltern und seine Schwester tot sind. Er fürchtete sich davor, die
Eltern und die Schwester zu kränken, zu Aussagen zu zwingen, zu denen
sie nicht fähig gewesen wären. Rücksichten eines braven Sohnes, der
seine Familie liebt.
Das Schweigen in der Familie scheint aber beredter gewesen zu sein, als
jede deutliche Aussprache es hätte sein können, denn es verfolgt den
Autor bis in seine Träume und droht seine Gesundheit zeitweilig zu
ruinieren, als er sich endlich näher mit dem Thema zu beschäftigen
beginnt. Als er Berichte über die SS und den Nationalsozialismus
allgemein zu lesen beginnt, erleidet er eine schwere Augenerkrankung,
als könne er der Wahrheit nicht ins Gesicht sehen. Doch er versucht es
immer wieder und er versucht die Vergangenheit als die seine zu
begreifen.
Hierfür hat er nur die schriftlichen Überbleibsel aus dem Leben seines
Bruders: Das Tagebuch, das dieser in der Ukraine führte und die Briefe,
die er an seine Familie schrieb. Das Tagebuch ist ein fast
ausschließliches Dokument des Alltäglichen, kein eigener Kommentar des
Bruders schafft Klarheit darüber, wie er zu seinem Entschluss stand, zur
SS zu gehen, kein Hinweis darauf, wie er zu dem Grauen des Krieges
stand, außer seiner Schlussbemerkung, dass er es für unsinnig halte,
über Dinge zu bereichten, die so grausam seien. Sätze, die vielleicht
doch eine Bedeutung haben könnten ("Brückenkopf über den Donez. 75m
raucht Iwan Zigaretten, ein Fressen für mein MG"), graben sich dem Leser
ebenso wie dem Autor ins Hirn, lassen dem Rezipienten des Tagebuchs
keine Ruhe auf der Suche nach der inneren Einstellung des Schreibers.
Der Schreiber aber gibt nichts weiter von sich preis, es folgen nur noch
knappe bis knappeste Daten.
Auch wenn immer wieder Schmerz und Abwehr erkennbar sind, weist Timm
zumindest die möglichen Schuldanteile des Bruders, auch des Vaters, der
Mutter, der Schwester nicht zurück. Er lässt zu, dass Schuld möglich ist
- auch wenn er sie nicht ausdrücklich bejaht. Diese Fähigkeit des
Zulassens hat er sich, wie es scheint, im Verlauf des Schreibens mühsam
erabeitet, denn im letzten Drittel schafft er es immer häufiger, für die
Realität seine persönliche Angst und seinen Schmerz zu überwinden. Ein
Buch also, dass man unbedingt zu Ende lesen sollte.