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Uwe Timm:
Am Beispiel meines Bruders
Kiepenheuer & Witsch 2003
Euro 16,90

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"Ein kurzes Leben, das viele Fragen aufwirft – Uwe Timm erzählt die Geschichte seines älteren Bruders, der sich freiwillig zur SS-Totenkopfdivision meldete und in der Ukraine fiel."

Gespenst der Kindheit:
Am Beispiel meines Bruders

Von Inge Schott

Timm schreibt dieses Buch, um einem Gespenst seiner Kindheit auf die Spur zu kommen. Sein 16 Jahre älterer Bruder, in der Ukraine als Angehöriger der SS-Totenkopfdivision gefallen, begleitet ihn seit seiner frühesten Kindheit. Zunächst ist der Bruder abwesend, weil er sich bereits an der Front befindet, später ist er es dann durch seinen Tod. Doch in der Sprache der Eltern lebt er unüberhörbar weiter und beeinflusst Uwe Timms Leben bis heute.

Geblieben sind dem Autor die Briefe des Bruders an die Eltern und an ihn selbst als Kind, sowie die Aufzeichnungen in dessen Tagebuch und immer wieder die Erinnerungen an die Worte – gesprochene, aber vor allem nicht gesprochene – der Eltern.

Uwe Timm bedient sich einer fragmenthaften Erzähltechnik, die seine Erinnerungen wiederspiegelt. Es dominiert das Fragen, nicht das Wissen. Und, besonders deutlich, es dominiert Distanz. Eine Distanz, die nur mühevoll in wenigen Fällen überwunden wird, indem der Autor die Begriffe "ich", "mein Bruder", "meine Eltern" verwendet, meist ist die Rede von "dem Bruder, dem Vater, der Schwester" etc., gerade so, als stünde der Autor neben sich, um zu erzählen.

Erste Versuche, seine Eltern zum Bruder zu befragen, werden abgewehrt mit den Worten "Man soll über Tote nicht sprechen.", obwohl der Bruder doch permanent Thema ist: die Zuverlässigkeit des Sohnes, die Güte des großen Bruders, die Artigkeit des Heranwachsenden in der Retrospektive der Eltern. Dennoch ist da ihre Angst vor mehr Wissen über den Bruder und davor, die eigene Vergangenheit aus heutiger Perspektive zu sehen. Sie zieht sich durch das Buch ebenso, wie sie sich durch Uwe Timms Leben gezogen hat. Mit den Worten "Man soll über Tote nicht reden." gibt die Mutter ihm zu verstehen, dass es da mehr zu wissen gibt, aber sie will es nicht wissen und nicht darüber sprechen. Dies gibt Timm auch als Grund dafür an, dass er sein Buch erst heute schreibt, erst, nachdem seine Eltern und seine Schwester tot sind. Er fürchtete sich davor, die Eltern und die Schwester zu kränken, zu Aussagen zu zwingen, zu denen sie nicht fähig gewesen wären. Rücksichten eines braven Sohnes, der seine Familie liebt.

Das Schweigen in der Familie scheint aber beredter gewesen zu sein, als jede deutliche Aussprache es hätte sein können, denn es verfolgt den Autor bis in seine Träume und droht seine Gesundheit zeitweilig zu ruinieren, als er sich endlich näher mit dem Thema zu beschäftigen beginnt. Als er Berichte über die SS und den Nationalsozialismus allgemein zu lesen beginnt, erleidet er eine schwere Augenerkrankung, als könne er der Wahrheit nicht ins Gesicht sehen. Doch er versucht es immer wieder und er versucht die Vergangenheit als die seine zu begreifen.

Hierfür hat er nur die schriftlichen Überbleibsel aus dem Leben seines Bruders: Das Tagebuch, das dieser in der Ukraine führte und die Briefe, die er an seine Familie schrieb. Das Tagebuch ist ein fast ausschließliches Dokument des Alltäglichen, kein eigener Kommentar des Bruders schafft Klarheit darüber, wie er zu seinem Entschluss stand, zur SS zu gehen, kein Hinweis darauf, wie er zu dem Grauen des Krieges stand, außer seiner Schlussbemerkung, dass er es für unsinnig halte, über Dinge zu bereichten, die so grausam seien. Sätze, die vielleicht doch eine Bedeutung haben könnten ("Brückenkopf über den Donez. 75m raucht Iwan Zigaretten, ein Fressen für mein MG"), graben sich dem Leser ebenso wie dem Autor ins Hirn, lassen dem Rezipienten des Tagebuchs keine Ruhe auf der Suche nach der inneren Einstellung des Schreibers. Der Schreiber aber gibt nichts weiter von sich preis, es folgen nur noch knappe bis knappeste Daten.

Auch wenn immer wieder Schmerz und Abwehr erkennbar sind, weist Timm zumindest die möglichen Schuldanteile des Bruders, auch des Vaters, der Mutter, der Schwester nicht zurück. Er lässt zu, dass Schuld möglich ist - auch wenn er sie nicht ausdrücklich bejaht. Diese Fähigkeit des Zulassens hat er sich, wie es scheint, im Verlauf des Schreibens mühsam erabeitet, denn im letzten Drittel schafft er es immer häufiger, für die Realität seine persönliche Angst und seinen Schmerz zu überwinden. Ein Buch also, dass man unbedingt zu Ende lesen sollte.

hagalil.com 29-12-03











 

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