Esther Seidel:
Ruth Liebrecht and Her Companions at the "Hochschule für die
Wissenschaft des Judentums" in Berlin 1930 - 1934
JVB,
Berlin 2002 |
Zum Beispiel Ruth Liebrecht:
Pionierinnen jüdischen Lernens
Von Lara Daemmig
Die
Hochschule für die Wissenschaft des Judentums in Berlin war ohne
Zweifel eines der wichtigsten geistigen Zentren des deutschen
Judentums. Gegründet 1872 hat hier bis zu ihrer Zwangsschließung
1942 über sieben Jahrzehnte lang die intellektuelle Elite der
jüdischen Gemeinschaft gewirkt, darunter Rabbiner
Leo Baeck.
Zum Jahrestag der Gründung und
Schließung erschien in der Jüdischen Verlagsanstalt eine
englischsprachige Studie mit dem Titel "Women Pioneers of Jewish
Learning. Ruth Liebrecht and her Companions at the Hochschule für
die Wissenschaft des Judentums in Berlin 1930 - 1934". Esther Seidel
behandelt darin am Beispiel von Ruth Liebrecht die beträchtliche
Zahl an Frauen, die zu Beginn der dreißiger Jahre an der Hochschule
studierten. Dass das Buch in Englisch geschrieben ist, von einer
Autorin, die in der Düsseldorfer Jüdischen Gemeinde aufwuchs und
heute jüdische Religionsphilosophie am Leo Baeck College in London
lehrt, steht gleichsam symbolisch für das Exil des deutschen
Judentums. Das Werk entstand auf Anregung von Heinz Liebrecht,
dessen verstorbene Frau Ruth, geb. Capell (1911 - 1998) vor ihrer
Emigration nach Großbritannien an der Hochschule in Berlin
studierte.
Ruth Capell wuchs in Wiesbaden in
einem liberalen jüdischen Elternhaus auf. Ihre Mutter war im
Jüdischen Frauenbund aktiv, ihr Vater arbeitete als jüdischer
Religionslehrer und amtierte in der Reformsynagoge als Kantor.
Prägend war darüber hinaus auch die antibürgerlich orientierte
deutsch-jüdische Jugendbewegung.
Das Buch ist in vier in sich
abgeschlossene Teile gegliedert. Zunächst stellt Esther Seidel Ruths
Lebensweg vor, der exemplarisch für die deutschen Studentinnen ihrer
Generation an der "Hochschule" ist. Den Schwerpunkt der Studie
bildet das zweite Kapitel über die Geschichte der Hochschule mit
besonderem Augenmerk auf die erste Hälfte der 30iger Jahre, als Ruth
dort studierte. 1931 waren 24 Frauen an der Hochschule
eingeschrieben, fast ein Fünftel aller Studierenden. Neben dem
Jüdisch-Theologischem Seminar in Breslau war dies der einzige Ort,
an dem Frauen auf akademischem Niveau Judentum lernen konnten.
Esther Seidel zeigt auf, wie sich das Studium an der "Hochschule"
gestaltete, wer dort studierte und lehrte, wie die Ausbildung
aufgebaut war, welche Anforderungen die Studenten erfüllen mussten,
und nicht zuletzt, wie das Verhältnis unter den jungen Leuten und zu
den Professoren war. Lebendig werden ihre Ausführungen durch die
Erinnerungen von Zeitzeugen.
Das dritte Kapitel widmet sich den
Berufswünschen und -aussichten der Studentinnen jener Zeit. Die
Mehrheit strebte den Beruf der Gymnasiallehrerin an. Die Ausbildung
zur Rabbinerin war ihnen verwehrt, wurde aber offenbar auch nicht
eingefordert. Einzig
Regina Jonas erstrebte die Smicha. Ruth Liebrecht und ihre
Kommilitoninnen sahen in Jonas jedoch eine singuläre Erscheinung und
es liest sich heute fast etwas befremdlich, mit welcher Vehemenz sie
Frauen als Rabbinerin ablehnten.
Obwohl sie selbst einen neuen
Aufbruch im Judentum verkörperten, war es ihnen wichtig, die
Konventionen nicht zu verletzen. Ihr eigenes Studium an der
Hochschule schien ihnen nur unter dieser Voraussetzung möglich,
weshalb sie sich auch nicht als Pionierinnen begriffen.
Bedauerlich ist, dass das Buch in
Englisch erschienen ist. Viele Ausdrücke und Zusammenhänge sind mit
der spezifischen Entwicklung des deutschen Judentums verbunden und
lassen sich nur schwer ins Deutsche zurück übersetzen. Trotzdem ist
es geradezu hierzulande lesenswert, beschreibt es doch einen heute
noch notwendigen und in Deutschland immer noch nicht vollzogenen
Aufbruch. Die jungen Frauen, die in den 30iger Jahren an der
Hochschule studierten, bewegten sich in einer typischen Spannung
zwischen althergebrachter Tradition und zeitgemäßer Erneuerung und
stellten eine Herausforderung für das Judentum dar, die mit der
Schoa abrupt erstickt jedoch dadurch keineswegs obsolet geworden
ist.
Aus: Jüdisches Berlin, Oktober 2002
hagalil.com
22-10-02 |