Dieses Buch ist eine Sammlung von Portraits wichtiger jüdischer
Persönlichkeiten aus Antike, Mittelalter und Moderne, die einen
bleibenden Beitrag zur prophetischen Aufgabe geleistet haben. Männer und
Frauen werden vorgestellt, die als ihre besondere Aufgabe ansahen,
Gottes Worte zu sprechen, und die moralische und spirituelle Vorbilder
ihrer Zeit waren. Sie handelten als Kritiker der Missstände ihrer
Gesellschaft, sie entlarvten Korruption unter den Mächtigen oder
spendeten Heil und Trost in Zeiten der Verzweiflung und der Krise.
Ein Prophet gilt oft irrtümlich als bloßer Vorhersager der Zukunft.
Doch die Propheten bedachten die Vergangenheit, schauten durch die
Gegenwart in die Zukunft und führten die Folgen aktueller Handlungen vor
Augen. Abraham Joshua Heschel stellte in seiner klassischen Studie über
die Propheten fest, dass das Auge des Propheten sich auf die
zeitgenössischen Ereignisse richtet. Die Gesellschaft und ihre
Verhaltensformen sind die Hauptthemen ihrer Reden. Doch ihr Ohr ist zu
Gott geneigt.
Das Wort »Prophet« leitet sich von dem griechischen Wort »prophetes«
ab, es bedeutet: »jemand der vorausredet«. Die griechischen Übersetzer der
Bibel verwendeten »prophetes«, um verschiedenen Typen der
hebräischen Prophetie zusammenzufassen: den Chose (Visionär), den
Ro'eh (Seher) und den Nawi.
Nawi ist die gebräuchlichste Bezeichnung in der Bibel. Ein Nawi
ist ein berufener Botschafter Gottes, der beauftragt ist. dem Volk den
Willen Gottes mitzuteilen. Oft nimmt er diese Rolle nur zögernd an, übt
sie dann aber mit leidenschaftlicher Hingabe aus. Der Prophet wird ein
radikales Individuum, niemandem verantwortlich als der göttlichen
moralischen Instanz, die er repräsentiert. Keiner der hier vorgestellten
biblischen Propheten hatte eine offizielle Position im antiken Israel.
Sie hatten verschiedene Hintergründe und soziale Stellungen. Jeder hatte
seinen eigenen Stil und bewahrte seine Individualität. Dies spiegelt
sich in den literarischen Werken, die ihre Predigten, Träume und
Botschaften ausführlich schildern. Abraham Jehoshua Heschel sagte, der
Prophet sei kein Sprachrohr, sondern eine Persönlichkeit; er sei kein
Werkzeug, sondern ein Partner Gottes. Durch die Propheten wurde die
göttliche Botschaft des Moralgesetzes und des sozialen Bewusstseins
übermittelt.
Der Nawi oder weiblich die Newia galt als Mann oder Frau
Gottes, die dem Volk Gottes Willen mitteilte, um Gerechtigkeit, Frieden
und religiöse Wahrheit zu verbreiten. Der Nawi erhob sich gegen
das Establishment, wenn Könige und Priester ihre Macht missbrauchten. Er
verteidigte die Rechte Einzelner, vor allem jener, die selbst machtlos
waren, dies zu tun. Als Folge davon musste ein Nawi oft
Gefängnis, Verbannung oder Nötigung erleiden, um dem Willen des
Herrschers gefügig gemacht zu werden. Kompromisse aber waren nicht das
Wesen des Nawi,
und dies unterschied den wahren vom falschen Propheten.
Das Konzept des Nawi endete mit der Kanonisierung der
hebräischen Bibel. Die spätere jüdische Tradition erklärte, die
Prophetie sei zu Ende gegangen (Talmud Joma 9b). Dennoch glaubten andere
in der jüdischen Tradition, vor allem der Verfasser von Seder Olam
Rabba
im 2. Jh. d.Z. und sogar Maimonides, an eine Fortsetzung der Prophetie
oder an die Möglichkeit, dass sie zurückkehren könne, wann immer Gott
erneut rufen würde. Der jüdische Beitrag zur Suche nach Wahrheit und
Gerechtigkeit innerhalb eines spirituellen Rahmens setzte sich fort, und
jene, die nach den biblischen Propheten eine prophetische Rolle
einnahmen, teilten im Großen und Ganzen die Charakteristika des Nawi.
Einzelpersonen traten leidenschaftlich für soziale Verbesserungen ein oder
für radikale Änderungen in Zeiten der Unterdrückung. Sie waren ein Echo
der antiken Propheten, indem sie sich gegen eine Macht erhoben, oft jede
persönliche Gefahr riskierend, indem sie die Lebenswirklichkeit der
Armen und Enteigneten darstellten und ihre Stimme erhoben für die, die
stumm waren oder zum Schweigen gebracht wurden.
Obwohl sie in ihrer Zeit und in ihrer jeweiligen politischen
Wirklichkeit verwurzelt waren, gaben diese mittelalterlichen und
modernen
Newiim den unterschwelligen Trieben der Freiheit und Gerechtigkeit
Ausdruck. Sie schrieen nach individueller Freiheit, Demokratie und
universalem Frieden - Vorstellungen, die sich tief ins Wesen der
abendländischen Zivilisation und ihre politischen, sozialen und
religiösen Ideale eingegraben haben. In dem Sinne, dass ihre Wahrheit
für alle Zeiten und jeden Ort gültig ist, kann man sagen, dass sie die
Zukunft ansagten. Durch ihre inspirierenden Worte und ihre
leidenschaftlichen Gedichte fuhren sie fort, uns die Vision einer
harmonischen, freien und spirituell reichen Welt zu verkünden. Ihre
Stimme spricht klar, durch die Generationen hindurch, so wie heute die
Worte der biblischen Propheten widerhallen: »Er hat dir doch kundgetan,
o Mensch, was gut ist, und was der Herr von dir fordert, ist doch nur:
auf Recht halten, Liebe üben und demütig wandeln vor deinem Gott.«
Dieses Buch schildert Leben und Werk dieser Individuen anhand ihrer
eigenen Worte, die das Bedürfnis nach sozialen Verbesserungen und
konkretem Handeln ausdrücken. Diese Quellensammlung jüdischer Visionen
aus drei Jahrtausenden offenbart einige der großartigen Beiträge, die
das Judentum zur abendländischen Zivilisation leistete. Diese Propheten
waren ein »Licht für die Völker«, obwohl sie in der Gemeinschaft und dem
Schicksal des jüdischen Volkes verwurzelt waren. Sie entwerfen die
Vorstellung des Moralgesetzes für alle Völker.
Alle Männer und Frauen in diesem Buch werden von ihren Biographen und
zeitgenössischen Historikern »Propheten« genannt. Für einige wird diese
Bezeichnung umstritten sein, aber meines Erachtens wurde sie auf diese
Individuen angewandt aufgrund ihrer besonderen Heiligkeit und der
konkreten Handlungen, die ihr Leben, ihre Worte und Taten zum Ausdruck
brachten. Die Auswahl ist durch die Seitenzahl begrenzt. Man hätte mehr
Persönlichkeiten auswählen können, die in diese Kategorie gepasst
hätten. Jeder, der hier aufgenommen wurde, war göttlich inspiriert, sein
Leben für die Verbesserung seiner Umwelt zu widmen. Als jüdische
Propheten bleiben sie tief in ihrem jüdischen Erbe und in der jüdischen
Gemeinschaft verwurzelt. Eifrig führten sie die biblischen Vorstellungen
des prophetischen Judentums aus, während sie gleichzeitig außerhalb des
Judentums in einer weiteren Welt redeten und handelten. Wenn wir diese
Berichte und die Worte dieser bemerkenswerten Männer und Frauen lesen,
werden wir daran erinnert, dass es für jede und jeden von uns die
Möglichkeit gibt, prophetisch zu sein, wenn wir auf den göttlichen Ruf
unseres Gewissens antworten. Indem wir dies tun, tragen wir die heilige
Aufgabe des Judentums weiter, die Triebkraft für Gerechtigkeit und Güte
in der Welt zu sein.
[LESEPROBE?]