Sebastian Hefti
(Hrsg.), Daniel Ganzfried:
"... alias
Wilkomirski. Die
Holocaust-
Travestie.
Enthüllung und
Dokumentation
eines
literarischen
Skandals."
Jüdische
Verlagsanstalt
Berlin 2002
Euro 12,90
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Gedenktage, wie der morgige Jom haShoah in Israel, werden
immer öfter zum Anlass genommen, über Formen des Erinnerns und
Wandlungen im Gedenkmuster der Gesellschaft nachzusinnen. Dabei ist
klar, dass wir uns seit längerem in einer Phase des Umbruchs befinden,
was vor allem daran liegt, dass die Generation der Zeitzeugen, der
Überlebenden der Shoah, immer kleiner wird. Die Bedeutung der
Zeitzeugenschaft, umhüllt von einer Aura des "Authentischen", möchte man
nicht unterschätzen. Der Bericht eines Überlebenden mag bei einem
Schüler wesentlich mehr Gedanken anschieben, als es ein Besuch in
Dachau, Bergen-Belsen oder Auschwitz jemals könnte.
Die Bedeutung von Zeitzeugen
wurde auch im Zuge der Affäre um Benjamin Wilkomirskis "Bruchstücke"
ausführlich diskutiert. Mittlerweile liegt eine Erzählung Daniel
Ganzfrieds, erschienen bei der Jüdischen Verlagsanstalt Berlin, dazu
vor, die man zum Anlaß nehmen sollte, sich noch einmal die Kernpunkte
des Skandals vor Augen zu führen.
Zur Erinnerung: Im Frühjahr
1995 erschien im Jüdischen Verlag bei Suhrkamp das ergreifende Büchlein
eines Schweizers, der angeblich in Polen geboren wurde und als Kind im
Alter von drei Jahren Majdanek und Auschwitz überlebt hat. Er sei danach
in die Schweiz gebracht und unter Verschleierung seiner wahren Identität
zur Adoption freigegeben worden. Dies alles war in seiner Erinnerung
verschüttet, von den Adoptiveltern auszulöschen versucht, erst nach
langen Jahren der Psychoanalyse habe er sich erinnern können. Der Name
der Autors wurde mittlerweile zum Exempel von "falschen Erinnerungen"
("false memory"), der Begriff "Wilkomirski-Syndrom" macht die Runde.
Im August 1998 erschien
Daniel Ganzfrieds Artikel "Die geliehene Holocaust-Biographie" in der
Weltwoche. Doch anders als zu vermuten wäre, löste diese hervorragende
journalistische Arbeit das Spektakel keineswegs auf. Immerhin konnte
Ganzfried zweifelsfrei nachweisen, dass Benjamin Wilkomirski, alias
Bruno Doessekker, nicht in Polen, sondern in der Schweiz geboren wurde:
"Wilkomirski kennt Auschwitz und Majdanek nur als
Tourist."
Wilkomirski-Doessekker ließ daraufhin verlautbaren, niemand müsse ihm
Glauben schenken, und so wurde das Thema dann auch fortgeführt. Auch
wenn alle Fakten, die der logische Menschenverstand erkennen kann, gegen
Wilkomirskis Lagervergangenheit sprachen, schenkten ihm viele, darunter
einflußreiche Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, Glauben. Als ob
die Tatsache, in welchem Land man geboren wurde, eine Glaubensfrage sein
könnte. Ihren vorläufigen Endpunkt nahm das Holocaust-Drama iIm November
1999, als ein Schweizer Rechtsanwalt schließlich Strafanzeige gegen
Bruno Doessekker erstattete, die einen DNA-Test nach sich zog, der
zweifelsfrei bewies, dass Wilkomirskis Vater, den man unterdessen
auftreiben konnte, ein Schweizer ist, wohnhaft in Biel.
Die Details können in dem
von Sebastian Heftis herausgegebenen Band "...alias Wilkomirski"
nachgelesen werden, in dessen Kern eine Erzählung von Daniel Ganzfried
steht, die seine Recherchen, die Ergebnisse, seine Gespräche mit den
einzelnen Beteiligten und seine persönliche Sicht der Dinge wiedergibt.
Ergänzt wird das Buch durch verschiedene Zeitungsartikel, die zum Thema
erschienen sind, sowie durch Interviews mit Claude Lanzmann und Imre
Kertesz.
Viele Aspekte des Skandals
um Wilkomirski, der eigentlich niemals zu einem wirklichen Skandal
wurde, sind noch nicht genügend ausgesprochen. An erster Stelle steht
dabei das Verhalten der Verantwortlichen in den Literaturbetrieben. Alle
möglichen Entschuldigungen kursieren seitdem, es könne durchaus sein,
dass Wilkomirski kein Shoah-Überlebender sei, dafür ein gebeuteltes
Adoptivkind, das aus traumatischer Erfahrung auf diese Geschichte
gekommen sei. Wilkomirski glaube fest an seine erfundene Biographie, man
könne also nicht wirklich von einer Fälschung sprechen. An was genau er
sich erinnerte, als er das Erbe seiner leiblichen Schweizer Mutter
einklagte, möchte man offensichtlich besser nicht diskutieren.
Mag sein, dass die ganze
Affäre ein Zeichen für die Universalität der Shoah ist. Mag sein, dass
Bruno Doessekker eine arme verirrte Seele ist, die in ihrem Trauma
gefangen ist. Mag sein, dass es nicht zu den Aufgaben eines Verlages
gehört, die Lebensgeschichte eines jeden Autoren detektivisch
nachzuprüfen. Unverzeihlich bleibt jedoch, dass man Wilkomirski mit
seiner Geschichte durch die Lande hat tingeln lassen, dass man ihn auf
Schulklassen losgelassen hat, wo er Schüler und Lehrer zu Tränen rührte,
nur damit sie nachher feststellen durften, alles nicht wahr!
Unverzeihlich ist der Schaden, den Wilkomirski angerichtet hat und der
durch ein paar einfacher Recherchen zu vermeiden gewesen wäre.
Unverzeihlich die Sorglosigkeit in einem solch heiklen Fall.
Bleibt zu hoffen, dass nicht nur der Jüdische Verlag bei
Suhrkamp aus der Geschichte gelernt hat. Dass man in Zukunft Fiktion und
Wirklichkeit auseinander halten kann. Nur dann wird eine Erinnerung an
die Shoah möglich sein, wenn die Tendenzen der Verniedlichung, wie
"Schindlers Liste" und "Das Leben ist schön", und eine Vermischung mit
Fiktion, wie im vorliegenden Fall, als solche entlarvt und verurteilt
werden. |