
Beate Niemann:
Mein guter Vater – Mein Leben mit seiner Vergangenheit – Eine
Täterbiographie
Teetz 2005, Verlag Hentrich & Hentrich
Euro 19,90
Bestellen? Der gute
Vater:
Man wird
stärker, wenn man sich stellt
Ein Interview mit Beate Niemann
über ihren Vater, den Polizisten und NS-Massenmörder Bruno Sattler aus
Berlin und die Reaktionen, die sie hervorruft, wenn sie von ihm
erzählt... |
Eine Täterbiographie:
Die guten Eltern
Beate Niemanns Ausbruch aus der verdrehten deutschen Familien-Erinnerung:
Opferschaft und Heldentum.
Von Martin Jander
Wo
auch immer NS-Täter-Kinder eine Auseinandersetzung mit den Untaten ihrer
Eltern versuchen, stoßen sie auf ein blockiertes und blockierendes
Familiengedächtnis. Hier werden, kriminalistisch gesprochen, falsche Spuren
gelegt, Beweise gefälscht, gelogen und Zeugnisse und Zeugen beseitigt. Wer
in diesen Irrgarten voller falscher Wegweiser eintritt, muss sich auch heute
noch auf einiges gefasst machen. So ging es auch Beate Niemann, von der zur
diesjährigen Buchmesse ein wesentliches, wenn auch bislang kaum richtig
beachtetes Buch erschien.
Beate Niemann ist die Tochter des Berliner Kriminalpolizisten und späteren
Gestapo-Chefs von Belgrad Bruno Sattler. Ihr Vater, 1898 in Berlin geboren,
trat 1928 in den Polizeidienst ein und entschied sich später für eine
Karriere in der Geheimpolizei. Zunächst war er dort für die Verfolgung von
Sozialdemokraten und Kommunisten verantwortlich. 1934 leitete u. a. die
Ermordung des Thälmann-Nachfolgers John Schehr. Später entwickelte er sich
zu einem Massenmörder mit Einsatzorten in der Sowjetunion, Jugoslawien und
Ungarn. In Belgrad mordete er von 1942 bis 1944. Er befehligte dort auch den
Einsatz eines Gaswagens mit dem im Frühsommer 1942 etwa 8.500 jüdische
Frauen und Kinder umgebracht wurden.
Die Autorin, 1942 geboren, hat ihren Vater nur bei verschiedenen Besuchen in
DDR-Gefängnissen kennen gelernt. Er war 1947, nach einer zunächst unerkannt
gebliebenen Flucht, aus Westberlin verschleppt worden. Nach Aufenthalten in
verschiedenen Gefängnissen des sowjetischen Geheimdienstes NKWD wurde er in
der DDR in einem Geheimprozess verurteilt und bis zu seinem Tod im Oktober
1972 nicht mehr entlassen. Da Beate Niemann nicht nur von ihrer Mutter seit
frühester Jugend über die Untaten ihres Vaters getäuscht wurde und ihn
darüber hinaus, wegen der DDR-Haft, als unschuldiges Opfer eines
Unrechtsregimes ansah, setzte sie zu seinen Lebzeiten alles daran, ihn
freizubekommen. Als er dann tot war, suchte sie ihn zu rehabilitieren und
wenigstens herauszufinden, warum die DDR ihn bis zu seinem Tod nicht
freigelassen hatte.
Eben die zu Rehabilitierungszwecken vorgenommene Recherche schlug dann
jedoch jäh um: "1991"- sagt Niemann in einem Interview - "habe ich einen
Rehabilitierungsantrag für meinen Vater an das zuständige Landgericht
Rostock gerichtet. Auf die erste Ablehnung reagierte ich mit Empörung. 1999
kam der endgültige ablehnende Beschluss, den ich immerhin schon akzeptieren
konnte. Und da wusste ich schon vieles. Heute bin ich über die Ablehnung
erleichtert, was für ein neues Unrecht wäre sonst geschehen."
Viele Gespräche mit Historikern und vor allem ausführliche Diskussionen und
Reisen mit dem Dokumentarfilmer Yoash Tatari, der ihre Recherche für den
Fernsehsender WDR dokumentierte, ließen Frau Niemann letztlich erkennen, wer
ihr Vater war. Endgültige Gewissheit verschaffte ein Buch. Da ihr Vater nach
dem I. Weltkrieg bereits einem Freikorps angehört hatte, der Brigade
Ehrhardt, suchte sie in der Bibliothek des Zentrums für
Antisemitismusforschung in Berlin nach Informationen zu diesem Thema. Sie
musste ein wenig warten und schlenderte währenddessen durch die Regalreihen.
Dabei stieß sie auf "Serbien ist judenfrei" von Walter Manoschek, in dem sie
wesentliche Details über die Verbrechen ihres Vaters in der Zeit in Belgrad
erfuhr. Seither hat Beate Niemann sich durch unzählbare Archive und
Aktenberge gewühlt, hat Überlebende der Verbrechen ihres Vaters aufgesucht,
alle Details zusammengetragen, die sie finden konnte.
Herumschlagen musste sie sich dabei nicht nur mit Archivordnungen und
zunächst unauflösbar scheinenden Zusammenhängen. Sie musste vor allem zwei
Tradierungsmechanismen der Geschichte des Nationalsozialismus im Gedächtnis
deutscher Familien nach 1945 außer Kraft setzen: Opferschaft und Heldentum.
Ihren ersten Besuch bei ihrem Vater in einem DDR-Gefängnis erinnert sie z.
B. so: "Dann öffnete sich die Tür, ein großer gebeugter Mann – kahl
geschoren, in Anstaltskleidung, eine Mütze in der Hand, hinter ihm ein
Uniformierter – betrat den Raum. Der Mann setzte sich mir gegenüber an den
großen Tisch. An den Seiten saßen seine Bewacher. Das war nun mein Vater,
von dem in unserem Familienkreis täglich gesprochen wurde, dessen Bild,
stets mit Blumen geschmückt, auf der Anrichte im Esszimmer stand. … Mein
Vater war die strahlende Figur in unserer Familie. Er stammte aus dem
Bildungsbürgertum, war fröhlich, freundlich, ehrenhaft und setzte sich stets
für andere ein, war eben ein preußischer Beamter im positiven Sinne. (So
jedenfalls wurde von ihm erzählt.)"
Plastischer kann kaum berichtet werden, welches im Familiengedächtnis
bewahrte Bild Frau Niemann umstoßen musste, um zur wirklichen Geschichte
ihres Vaters vorzudringen. Es ist deshalb auch überhaupt nicht
verwunderlich, dass sie die Wahrnehmung von ihrem Vater als Opfer lange mit
sich trug, sogar auch dann noch, als sie bereits viele Details seiner
Verbrechen kannte. Sie berichtet z. B. folgendes Ereignis: der
Dokumentarfilmer Yoash Tatari, der ihre Recherchen ein Jahr lang für den WDR
begleitete, bat sie ihm eine Liste von Orten in Berlin zu übergeben, die im
Leben ihres Vaters eine Rolle gespielt hätten. "Zwei Tage später" – schrieb
Frau Niemann – "gab ich ihm eine Liste mit den Worten, ich hätte es mir
leicht gemacht und die Orte unterteilt in Täter- und Opfer-Orte." Darauf der
Dokumentarfilmer: "Frau Niemann, wann war ihr Vater Opfer?" Beate Niemann
berichtet auch ihre unmittelbare Reaktion auf diese Frage: "Schnell verließ
ich den Raum. Wie konnte er es wagen, mich das zu fragen. Es hatte sich
vorher noch niemand getraut – zumindest nicht in meinem Beisein –
anzuzweifeln, dass mein Vater 25 Jahre lang Opfer gewesen war."
Es war jedoch nicht nur das Bild vom unschuldigen Opfer Bruno Sattler, das
Frau Niemann umstoßen musste, es war auch das Bild einer angeblich
heldenhaften Mutter. Die Geschichte, die hier zu korrigieren war, handelte
vom Geburtshaus Beate Niemanns in Berlin. Es gehörte vor dem
Nationalsozialismus der jüdischen Familie Leon. Beate Niemann schildert die
familiäre Erzählung, die sich später als unwahr herausstellte, so: "Die
Erzählung meiner Mutter war folgende: Mein Vater und sie hätten das Haus
1942 Frau Leon abgekauft, meine Mutter habe sie mit mir im 8. Monat
schwanger über die Schweizer Grenze in Sicherheit gebracht. Nach dem Krieg
sei uns das Haus unrechtmäßig weggenommen und einem ihrer Enkel in Südafrika
zugesprochen worden. Als Kind war ich auf dem Schulweg täglich an dem Haus
vorbeigekommen, hatte oft davor gestanden, traurig, nicht verstehend, warum
ich nicht in ihm leben durfte, in dem schönen Garten, den ich drei Häuser
weiter von der Terrasse meiner Patentante aus einsehen konnte."
An der Geschichte war fast alles unwahr. Durch einen Zufall machte die
Autorin im Jahr 2001 die Entdeckung, dass ihre Mutter drei Tage nach ihrer
Geburt dem Vater eine Karte nach Belgrad geschrieben hatte. Sattler war zu
diesem Zeitpunkt bereits Gestapo-Chef. Neben vielen in diesem Zusammenhang
unwichtigen Details fand sie auf der Karte den Satz: "Die Leon kommt am
20.6. mit Transport nach dem Osten." Entgegen ihrer eigenen Erzählung hatte
Frau Sattler die vormalige Besitzerin des Hauses, Frau Leon, also nicht
gerettet, sie war - wie auch die Inschrift auf dem Grabstein auf dem
Friedhof in Berlin-Weißensee zeigte - zunächst nach Theresienstadt
deportiert und dann in Auschwitz umgebracht worden.
Durch aufwendige Recherchen fand Beate Niemann den wirklichen Ablauf der
Ereignisse: "Mein Vater hatte 1937 in einem Brief an Herrn Leon einen Kauf
[des Hauses – d. Verf.] abgelehnt. 1942, Herr Leon war verstorben, gab mein
Vater Frau Leon die Versicherung, dass sie für ein Jahr von der
Evakuierung zurückgestellt werde. Sie sind zu einem Notar gegangen,
meine Mutter und Frau Leon, hinter ihnen ein SS-Mann in Uniform! Frau Leon
unterschrieb den Kaufvertrag, in einer Bank übergab meine Mutter ihr den
Anteil des Kaufpreises in bar, den Frau Leon auf ein besonderes Konto
einzahlen musste. Frau Leon gratulierte meiner Mutter noch zu meiner Geburt,
dann wurde sie von der Gestapo abgeholt und am 7. Juli 1942 nach
Theresienstadt deportiert, ermordet worden ist sie Ende 1944 in Auschwitz."
Als der Dokumentarfilm zur Recherche Beate Niemanns zum ersten Mal im
Fernsehen ausgestrahlt wurde, schrieb Phillip Gessler in der "tageszeitung",
die ganze aufwendige Recherche Niemanns drehe sich weder um den Vater Bruno
Sattler noch um seine vielen Opfer. Alles drehe sich nur um Beate Niemann
selbst. Wörtlich schrieb er: "Beate Niemann ist einfach unerträglich. Sie
hat das in Reinform, was der Philosoph Hermann Lübbe den Sündenstolz
der Nachgeborenen über die Schuld der Väter genannt hat." Wer das gerade
erschienene Buch zur Hand nimmt, wird sich ohne Mühe davon überzeugen
können, dass dies vollkommen falsch ist. Beate Niemann präsentiert sich
selbst eher zurückhaltend. Im Mittelpunkt ihrer Darstellung steht der
Versuch einer Rekonstruktion des Lebensweges ihres Vaters und der möglichst
genaue Beleg für seine Untaten. Es gibt nicht viele solcher Bücher (und
Menschen).
Dr.
Martin Jander studierte Geschichte, Germanistik und Politikwissenschaft an
der Freien Universität Berlin. Er arbeitet als Historiker,
Erwachsenenbildner und Journalist zu den Themen Politische Theorie, Shoah,
Nationalsozialismus, SED-Diktatur und Opposition sowie westdeutsche
Nachkriegsgeschichte. Veröffentlichungen siehe:
www.unwrapping-history.de
hagalil.com
07-11-05 |