Lärm. Lärm ist das erste Wort, das mir einfällt, wenn ich an die
letzten zehn Jahre denke. Fürchterlicher Lärm. Schüsse und Schreie,
Hetzreden, Jammern und Klagen, Explosionen und Demonstrationen, große leere
Worte, Sondersendungen vom Ort des Anschlags, Rufe nach Rache, dröhnende
Hubschrauber am Himmel, die heulenden Sirenen der Ambulanzen und das
frenetische Klingeln der Telefone nach jedem Zwischenfall.
Im Zentrum des Wirbelsturms, im Auge des Hurrikans, herrscht Stille. Man
kann sie körperlich empfinden. Eine Stille wie in dem kurzen Augenblick
zwischen schlechter Nachricht und Begreifen, zwischen Schlag und Schmerz.
Es ist die Leere, in der jeder Mensch, ob Israeli oder Palästinenser, mit
unerschütterlicher Sicherheit alles weiß, was er nicht wissen will oder
nicht zu wissen wagt. In der er tief in seinem Innern begreift - selbst wenn
er dies vehement bestreitet, wenn er schießt und schreit -, daß er sein
Leben verschwendet, daß es in einem sinnlosen Kampf verrinnt. Daß ihm in
einem Konflikt, der längst gelöst sein könnte, permanent seine Identität,
seine Selbstachtung und Einzigartigkeit geraubt werden.
Das einzugestehen ist zu schmerzlich. Dieser Gedanke ist unerträglich.
Und so erklärt sich das ständige überwältigende Bedürfnis, dieser Stille zu
entfliehen, zu dem vertrauten Lärm zurückzukehren, an den wir uns — niemand
vermag zu sagen, wie und wann — irgendwie gewöhnt haben. Wir kommen damit
sogar ganz gut zurecht. Sie (das heißt »die Feinde«) werden uns nicht in die
Knie zwingen. Wir haben das Recht auf unserer Seite. Wir haben keine Wahl.
Wir werden »uns von unseren Schwertern nähren, und das Schwert wird ohne
Ende fressen«.
Aber dort, an jenem stillen Ort, ist der Lärm von draußen verstummt.
Dort, von allen schützenden nationalen, religiösen und sozialen Hüllen
entblößt, ist der Mensch allein, sitzt mit angezogenen Beinen da, wie
jemand, der etwas Grauenvolles getan hat und sich dem Verbrechen stellt, das
er an anderen und an sich selbst begangen hat und weiterhin begeht.
Wenige von uns, Israelis wie Palästinenser, können stolz auf das sein,
was sie in den vergangenen Jahren getan haben, womit sie, aktiv oder passiv,
kollaborierten, indem sie wegsahen, Bedenken beiseite schoben oder sich
selbst betäubten.
Das Buch "Diesen Krieg kann keiner gewinnen" enthält einige Dutzend
Artikel, die auf besonders turbulente Augenblicke in den Jahren nach der
Unterzeichnung des Osloer Abkommens 1993 reagieren. Ich bin kein Journalist.
Ich würde mich lieber in meinem Haus einschließen und nur noch Romane
schreiben. Doch die Wirklichkeit, in der ich lebe, übersteigt jede Phantasie
und sickert tief in mich ein. Und manchmal ist das Verfassen eines Artikels
für mich der einzige Weg, zu verstehen, zu entziffern und diesen Alltag zu
überleben.
Auch wegen des Lärms schreibe ich Artikel, denn häufig fühle ich mich dem
Ersticken nahe und reagiere klaustrophobisch auf die betrügerischen,
verlogenen Worte, die alle interessierten Parteien - Regierung, Armee,
Medien - uns, ihren Untertanen in diesem Katastrophengebiet, ununterbrochen
einzuhämmern versuchen. Mitunter kann die neue Darlegung einer Lage, die
schon als hoffnungslos verloren und versteinert galt, uns in Erinnerung
rufen, daß uns im Grunde kein Gottesurteil zu hilflosen Opfern von Apathie
und Lähmung verdammt.
Ich muß gestehen, daß mich häufig das Gefühl überkommt, Worte könnten die
Wand des Horrors nicht mehr durchdringen. Es ist schwer, jemanden mit Worten
zu erreichen, wenn um einen herum Menschen in die Luft gesprengt und Kinder
in Fetzen gerissen werden. In solchen Momenten würde ich lieber schreiend
durch die Straßen laufen als schreiben.
Einige Meinungen und Hoffnungen, die ich geäußert habe, einige von mir
vertretene Einschätzungen haben sich als falsch erwiesen. Diese Artikel
wurden dennoch in dieses Buch aufgenommen, weil auch sie, wie ich meine, den
Prozess, den viele durchlebt haben, widerspiegeln. Sie wurden aufgenommen,
weil ich nicht unterschlagen will, was ich - und viele andere - erfahren
habe. Ebensowenig möchte ich meine Hoffnungen und Sehnsüchte verleugnen.
Wenn ich gelegentlich einen Blick in den Atlas werfe, packt mich die
Verzweiflung. Das winzige Israel, das auf der Karte nicht einmal groß genug
für den Schriftzug seines Namens ist und dessen »Taillenweite« keine elf
Kilometer beträgt, ist von feindlichen Staaten und Völkern umgeben, von
denen viele von der Welle des fundamentalistischen Islamismus erfaßt wurden,
von Judenhaß geprägt sind und sogar offen die Vernichtung des Judenstaates
zu ihrem Ziel erklären. Ich spüre, wie die Finger der offenen,
ausgestreckten Hand sich in Angst und Verzweiflung zur Faust ballen. Es ist
verständlich, daß die Israelis in solch einer Lage sich instinktiv immer
mehr verschanzen wollen. Es ist nachvollziehbar, warum sie der Versuchung
erliegen, aggressiven, kriegslüsternen Führern zu folgen, und sich
ängstlich, mißtrauisch und vernarbt durch die Erinnerungen an die
Vergangenheit in Erwartung des nächsten Zusammenstoßes mit einer stählernen
Rüstung umgeben.
Was erwartet uns? Wer ist weise genug, das zu wissen? Ich neige zu der
Annahme, daß in absehbarer Zukunft unser Leben hier eine kontinuierliche
Abfolge von kleinen und heftigen Konfrontationen bleiben wird. Ich hoffe
darauf, daß der Konflikt nach und nach an Sprengkraft verliert, daß beide
Seiten müde werden und die schmerzliche Anerkennung der Wahrheit Israelis
und Palästinenser zwingt, zur Durchsetzung ihrer Interessen zu gewaltlosen
Mitteln zu greifen.
Doch selbst wenn wir zu Jahren der Gewalt und Feindschaft verdammt sind,
zu brüchigen Friedensvereinbarungen, die immer und immer wieder verletzt
werden, müssen wir unablässig an Alternativen arbeiten und an der heute
geleugneten und verworfenen Möglichkeit der friedlichen Koexistenz
festhalten. Unsere beiden Völker müssen diejenigen in den eigenen Reihen und
in den Reihen der anderen, die ein echtes Interesse an Frieden haben und
schon zu einem schmerzhaften Kompromiß bereit sind, unterstützen. Tun
wir dies nicht, wird die ganze Arena den Extremisten, den Gewalttätigen und
den Kriegstreibern offenstehen. Tun wir dies nicht, werden unsere Kinder
sich nur noch dunkel daran erinnern, wofür es sich lohnt zu kämpfen und was
erstrebenswert ist. Es ist erschreckend zu sehen, wie leicht man gerade das
vergißt.Wie schnell die wertvollsten und wichtigsten Dinge ihren Rang
verlieren und in diesem Lärm untergehen. Das ist vielleicht die
deprimierendste Entdeckung der beiden letzten Jahre: die starke
Anziehungskraft des Hasses und der Rachsucht. Als wäre eine dünne Schicht
von Kultur und Menschlichkeit von beiden Völkern weggeblasen und Bestialität
und Barbarei enthüllt worden. Beim Anblick der Greueltaten, die diese beiden
Völker einander antun, vergeht einem Menschen bisweilen nicht nur die Lust,
in dieser Region zu leben, sondern die Lust am Leben überhaupt.
Die Chance, uns aus diesen inneren Fallen zu befreien, hängt also auch
wesentlich von der Fähigkeit ab, sich der Denkweise des »Wir haben keine
Wahl« und »Wir haben keinen Partner« zu erwehren. In diesem Kampf verlaufen
die Fronten heute nicht zwischen Israelis und Palästinensern, sondern
zwischen denen, die nicht bereit sind, sich mit der Verzweiflung abzufinden,
und denen, die sie in eine Lebensform verwandeln wollen.
Um diesen Kampf geht es im Kern dieses Buches:
Siebenunddreißig Artikel, eine Geschichte, an der noch geschrieben wird.
David Grossman, Jerusalem, Dezember 2002
|
David Grossman
Diesen Krieg kann keiner gewinnen
Chronik eines angekündigten Friedens
Aus dem Hebräischen von Vera Loos und Naomi
Nir-Bleimling
August 2003
200 Seiten
EUR 17,90 / SFR 31,20
ISBN 3-446-20374-5
[BESTELLEN?] |