Moralische Idioten:
Das Personenlexikon zum Dritten Reich
Ernst Klees Lexikon zur NS-Zeit ist so
spannend wie lehrreich. Vor allem enthüllt es: "Wer war was vor und nach
1945"
Von Christian Semler
Erschienen in: taz vom 21.02.2004
Es mangelt nicht an Biografien und Lexika zu den
Akteuren des Nazi-Regimes, und dennoch ist Ernst Klees "Personenlexikon
zum Dritten Reich" keineswegs ein überflüssiger Nachzügler. Das Werk
wurde quasi im Alleingang erarbeitet, ist die Frucht jahrzehntelanger
Beschäftigung mit Tätern, Helfern und Nutznießern des "Dritten Reiches".
Es versammelt rund 4.300 Kurzbiografien. Damit bietet es die bei weitem
umfassendste Sammlung von einschlägigen Lebensläufen.
Klee hat die Literatur bis in die jüngste Zeit ausgewertet.
Zwei Stichproben mögen dies belegen: Die Publikationen im Rahmen des
laufenden Forschungsprojekts des Max-Planck-Instituts über dessen
Vorläufer, das Kaiser-Wilhelm- Institut, in der Nazizeit finden ebenso
Berücksichtigung wie neue Elitenanalysen, etwa Michael Wildts
"Generation der Unbedingten", eine Darstellung des Führungskorps des
Reichssicherheitshauptamts. Entsprechende Hinweise bei Klee erleichtern
ein vertieftes Studium.
Der Untertitel des Buchs beschreibt gleichzeitig sein
Hauptverdienst: "Wer war wer vor und nach 1945". Über Karrieren unter
dem Nazismus zu forschen und die Nachkriegszeit auszublenden, wie es in
einer Reihe ansonsten verdienstvoller Arbeiten geschieht, verkürzt die
deutsche Zeitgeschichte um eine wesentliche Dimension. Denn es waren
diese hundertfach fortgesetzten Karrieren, die die ersten Jahrzehnte der
Bundesrepublik zwar nicht bestimmten, aber nachhaltig prägten. Mit
wenigen Ausnahmen glitten Ideologen und Profiteure, oftmals auch Täter
und Gehilfen des Massenmordes umstandslos in die Nachkriegszeit hinüber,
mutierten zu aufrechten Demokraten.
Verharmlosen, übertünchen, leugnen - das war lange Zeit die
Verhaltensmaxime. Diese Abwehrstrategie konzentrierte sich zu einer
systematischen Gesprächsverweigerung gegenüber der nachfolgenden
Generation. Hierin liegt die Wurzel der späteren Rebellion der 68er -
und nicht in billiger Abgrenzungssucht der Jüngeren, die niemals der
totalitären Versuchung ausgesetzt waren. Jeder heutige Leser von Klees
Lexikon wird diesen Zusammenhang nachvollziehen können.
Obwohl Ernst Klee den Personalbestand des nazistischen
Terror- und Manipulationsapparats minutiös auflistet, steht doch die
Legion der Helfershelfer und Profiteure im Mittelpunkt des Interesses.
Besonders die Rolle von Wissenschaftlern im Allgemeinen und
Naturwissenschaftlern sowie Ärzten im Besonderen akzentuiert er. Diese
Vorgehensweise rechtfertigt sich aus zwei Gründen. Zum einen waren
zahllose Wissenschaftler für die Formierung des totalitären Staates und
dessen Kriegsvorbereitungen unentbehrlich - viele davon keineswegs
überzeugte Nazis. Und zum anderen gaben Wissenschaftler den nazistischen
Leitvorstellungen einen seriösen Anstrich. Man denke nur an die Theorien
zu Rasse und Lebensraum.
Wer Klees Auswahlprinzip denunziatorisch nennt, blockiert
jede Einsicht in die Funktionsweise des "Dritten Reiches". Zu Recht
wendet er sich gegen eine Tendenz, die zwischen einem engen Kreis von
Verantwortlichen und den Gutgläubig-Ahnungslosen unterscheidet. Das
Lexikon zeigt vor allem: Es gab viele Quellen und Motive für die
Unterstützung des Naziregimes.
Nehmen wir stellvertretend die Biografie von Adolf
Butenandt - Biochemiker, Nobelpreisträger und Präsident der
Max-Planck-Gesellschaft nach dem Krieg. Klee listet die Etappen von
Butenandts Karriere in der NS-Zeit lückenlos auf: von der Unterzeichnung
des Bekenntnisbriefs deutscher Wissenschaftler zu Adolf Hitler 1933 bis
zu seiner Mitarbeit in wissenschaftlichen Institutionen, die dem
Massenmord zuarbeiteten. Fast überflüssig zu erwähnen, dass ein Lexikon
wie der Brockhaus noch 1997 diese dunkle Seite Butenandts mit keinem
Wort erwähnt. Ernst Klees Lexikon erweist sich auch hier als
unvermindert aktuell.
Gemessen an den Verdiensten der Arbeit, fällt das
Kritikwürdige nicht entscheidend ins Gewicht. Manche der Kurzbiografien
haben einen etwas subjektivistischen Einschlag - etwa die von Adolf
Hitler. Bei ihr begnügt sich Klee mit genau 18 Zeilen; zwei Zitate von
1923 und 1941 sollen die Kontinuität von Hitlers antisemitischen
Ausrottungsfantasien belegen. Wenn Klee meint, alle anderen Umstände von
Hitlers Herrschaft, insbesondere die Frage, welchen Stellenwert er nun
wirklich im NS-System einnahm, seien hinreichend geklärt, so irrt er.
Robert Wistrich, ein englisch-israelischer Gelehrter, der vor zwanzig
Jahren 400 essayistische Biografien unter dem Titel "Wer war wer im
Dritten Reich?" herausgab, ist diesem Irrtum nicht erlegen.
Was fehlt bei Ernst Klee? Zum Beispiel einer der grausamen
Folterer und Mörder von Auschwitz, Friedrich Wilhelm Boger. Auslassungen
wie diese sind jedoch unvermeidlich und umstandslos zu korrigieren.
Gravierender sind die weißen Flecken im Bereich der Künste und der
Literatur, wo die Stars der Ufa zur Nazi-Zeit so systematisch ausgespart
sind, dass man fast glauben mag, der Regisseur Veit Harlan sei der
einzige Zulieferer von Goebbels gewesen. In diesem Bereich ist das
bereits erwähnte Lexikon von Wistrich weit instruktiver, wenngleich auch
dieser Autor die letzte, gänzlich überraschende Wendung im Fall der
Ufa-Stars Zarah Leander, Marika Rökk und Olga Tschechowa - womöglich
waren alle drei Nazi-Lieblinge KGB-Spioninnen - nicht erahnen konnte.
Problematisch auch die Behandlung der Antifaschisten und
Widerstandskämpfer. Hier scheint ziemlich willkürlich, wer ins Lexikon
aufgenommen wurde und wer nicht. Eine sinnvolle Möglichkeit wäre
gewesen, auf die Biografie derer einzugehen, die zuerst den Nazismus
unterstützen und sich dann zu seinen Gegnern wandelten. Ein solches
Prinzip ist bei Klee sogar angelegt, so in den Kurzbiografien von Kurt
Gerstein und Claus Schenk Graf von Stauffenberg. Aber es wird nicht
durchgehalten. Wenigstens die wichtigsten Gruppen des Widerstands
sollten in künftige Auflagen des Lexikons aufgenommen werden.
Augenfällig ist, dass der kommunistische Widerstand fast völlig
ausgespart wird. Was umso bedauerlicher ist, als er nach der
Beweihräucherung zu DDR-Zeiten im vereinten Deutschland nicht den ihm
gebührenden Platz erhalten hat.
Klees großes Lexikon befördert weder Strafbedürfnisse noch
Selbstgerechtigkeit. Eher erschrecken wir immer wieder aufs Neue bei der
Lektüre. So viele kluge Köpfe haben sich angesichts von Karrierechancen
als moralische Idioten erwiesen. De te fabula narratur - dieses Lexikon
wurde für unseren Gebrauch verfasst.
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22-02-04 |