Frank Bajohr hat sich mit den Dimensionen alltäglicher
Judenfeindschaft in Deutschland, die eher wenig Beachtung gefunden
haben, befasst. In dem vorliegenden Band damit, welche Erfahrungen
deutsche Juden lange vor dem "Dritten Reich" machen konnten. Ein Kapitel
widmet er aber auch dem gleichen Phänomen in den USA, wo man noch bis zu
den 60er Jahren Juden in Hotels und Klubs diskriminiert hat. Ein anderes
Kapitel dokumentiert, dass trotz eines sehr viel kleineren Staatsgebiets
die (Erste) Republik Österreich im Vergleich zum Deutschen Reich eine
doppelt so hohe Anzahl "judenfreier" Sommerfrischen aufwies.
Bajohr weist auf ein interessantes Phänomen hin, es gab sowohl in
Deutschland als auch in Österreich Gemeinden, die sich im Sommer keinen
Antisemitismus leisteten, es jedoch in der Vor- und Nachsaison taten. In
meiner Heimatstadt, in Baden bei Wien hat die Gemeinde in der
Zwischenkriegszeit keinen Antisemitismus gepflegt. Allerdings war der
Antisemitenverein sehr aktiv. Man erzählte seinerzeit die Geschichte,
als dieser Antisemitenverein während der zwanziger Jahre an den
Bürgermeister herantrat und fragte, ob sie denn im Sommer eine
internationale Konferenz abhalten dürften, antwortete dieser "Seid's ihr
teppert, im Sommer können wir uns keinen Antisemitismus leisten".
In seinem Buch begnügt sich Bajohr nicht mit der Schilderung der
Handlungen und Aktionen der Antisemiten sondern schildert auch die
Reaktionen und Verhaltensstrategien der betroffenen Juden. Bajohr meint,
"jede Untersuchung der Judenfeindschaft in Deutschland auch wenn sie
Alltagsphänomene behandelt die Frage zu beantworten hat, wie und in
welchem Umfang gesellschaftlicher Antisemitismus zur Ausgrenzung und
Vertreibung der Juden nach 1933 und schließlich zur Ermordung von
annähernd sechs Millionen europäischer Juden beigetragen hat.
In diesem Zusammenhang präsentiert sich der Bäder-Antisemitismus als
ein Phänomen, das in den 1870er Jahren aufkam, sich unter den
Bedingungen des Kaiserreiches schleichend ausbreitete, nach dem Ersten
Weltkrieg einen deutlichen Radikalisierungsschub erfuhr und schließlich
nach 1933 in eine Politik der organisierten Ausgrenzung überführt wurde,
die einerseits an den Bäder-Antisemitismus anknüpfte, andererseits
qualitativ eine neue Entwicklung markierte."
In seinem Österreich gewidmeten Kapitel, zitiert Bajohr den
Salzburger Historiker Albert Lichtblau, der sich mit dem
"Sommerfrischen"-Antisemitismus befasst und u.a. herausgearbeitet hat,
welch große Rolle die Sommerfrische als Topos in den Memoiren
österreichisch-jüdischer Vertriebenen spielt. In Österreich-Ungarn trat
auch dank des Nationalitätenkonflikts der Bäder-Antisemitismus in
größerer Intensität und Schärfe auf. Dementsprechend warnten Reiseführer
vor italienischen Gaststätten in Südtirol, tschechischen Ärzten in
böhmischen Kurbädern oder slowenischen Vermietern von Berghütten in den
Karawanken.
In diesem politischen Klima verwundert es nicht, dass der
Sommerfrischen-Antisemitismus in Österreich nicht nur von antijüdisch
gesinnten Gästen bzw. den Hotel- und Pensionsbesitzern ausging, sondern
im Gegensatz zum Deutschen Reich zentral von Tourismusorganisationen,
Gemeindeverwaltungen und Fremdenverkehrsvereinen getragen wurde. Diese
suchten durch entsprechende Verlautbarungen, administrative Maßnahmen
oder gar Gemeinderatsbeschlüsse ihren Ort möglichst vollständig
"judenfrei" zu machen. "Eine unrühmliche Vorreiterrolle nahm 1897 der
bekannte Ferienort Kitzbühel in Tirol ein, als dort die
Generalversammlung des Fremdenvereines beschloss: "Anfragen von Juden
haben unberücksichtigt zu bleiben."
In der Folgezeit zierte ein entsprechender Stempelaufdruck sämtliche
Ferienprospekte des Ortes." Der 1890 gegründete Österreichische
Gebirgsverein, der vor allem in Niederösterreich verbreitet war, nahm
seit seiner Gründung nur "deutsche Volksgenossen" als Mitglieder auf. In
Wien gründete sich 1905 eine Sektion des Deutsch-Österreichischen
Alpenvereins (DÖAV), deren Mitgliedschaft auf "Deutsche arischer
Abstammung" beschränkt war. Nach dem Ersten Weltkrieg bezeichneten sich
Fremdenverkehrsorte als "arische Sommerfrische ersten Ranges" (Pöllau)
oder "judenrein" (Mittersill, Tamsweg) und warben mit den Zusätzen "Nur
für Arier" (St.Veith im Mühlkreis). "Der Aufenthalt wird nur Ariern
bewilligt" (Wachau), "Juden nicht erwünscht" (Schladming) oder
"Angenehmer Aufenthalt für christliche Familien" (Troifach).
"Mit rund 60 bis 70 lag allein die Zahl der "judenreinen"
Sommerfrischen in Österreich mehr als doppelt so hoch wie im Deutschen
Reich, und die inflationäre Verwendung des Wortes "arisch" machte
deutlich, dass die meisten Orte gar nicht erst versuchten, ihren
Rassenantisemitismus hinter dem Mantel der "Christlichkeit" zu tarnen."
Auch die antisemitischen Gemeinderatsbeschlüsse hatten im Deutschen
Reich kein Pendant und stellten einen klaren Verfassungsbruch durch eine
öffentlich-rechtliche Körperschaft dar. "Wenn es sich um Juden handelte,
nahmen die tonangebenden politischen Kräfte in Österreich allerdings
solche verletzten Rechtsgrundsätze nicht besonders ernst."
Für die Haltung der nichtjüdischen deutschen Bevölkerung nach 1933
war zweifellos die im Bäder-Antisemitismus manifestierte
Judenfeindschaft von erheblicher Bedeutung. Die Nationalsozialisten
nahmen auf die jeweilige "Volksmeinung" Rücksicht. Es war nicht ohne
Bedeutung, dass sich lange vor 1933 massive Tendenzen der Ausgrenzung
und Abschottung herausbildeten, dass unter dem Einfluss des
Bäder-Antisemitismus öffentliche Zonen der Apartheid entstanden, die die
gesellschaftlichen Kontakte zwischen Juden und Nichtjuden immer stärker
reduzierten. Dies förderte eine Grundhaltung gegenüber der jüdischen
Minderheit, ohne die die nationalsozialistische Ausgrenzungspolitik
nicht so erfolgreich verlaufen wäre: die weit verbreitete Auffassung
nämlich, dass es sich bei Juden nicht um "Deutsche" oder gar
"Volksgenossen" handelte, sondern um "Fremde", ja "Andersartige", die
nicht wirklich dazugehörten.