Der Historiker und Publizist Götz Aly
hat allein und mit Koautoren einige grundlegende Forschungen über den
Nationalsozialismus veröffentlicht. Im mit Susanne Heim publizierten
Buch "Vordenker der Vernichtung / Auschwitz und die deutschen Pläne für
eine neue europäische Ordnung" wurde die Rolle der Intellektuellen als
Vordenker beleuchtet. In diesem Buch zeigen sie einerseits die
Modernisierung und Dynamik Deutschlands, andererseits eine bis heute
unbekannte Systematik der Ausrottung und Zerstörung. Zudem wurde auch
die Radikalisierung der judenfeindlichen Politik aufgrund der
Erfahrungen nach dem "Anschluß" dokumentiert.In seinem Buch
"Endlösung"/"Völkerverschiebung und der Mord an den europäischen Juden"
wies Götz Aly den Zusammenhang zwischen dem Massenmord an den Juden und
der Umsiedlung Volksdeutscher nach. Im vorliegenden Band finden wir 27
Artikel, deren gemeinsames Thema die erste Hälfte des zwanzigsten
Jahrhundert ist. Götz Aly schreibt ohne ideologischen Scheuklappen, d.h.
es gibt für ihn keine Tabuthemen und so kommt er oft zu unerwarteten
Schlüssen.
Daniel Goldhagens These vom mörderischen Antisemitismus, der schon
vor 1933 in Deutschland geherrscht hätte, wird von Götz Aly gründlich
widerlegt. Deutschland war vor 1933 kein besonders judenfeindliches
Land. "Einen arteigenen teutonischen Blutdurst hat es nicht gegeben"
schreibt er und verweist auf die Tatsache, dass nach dem ersten
Weltkrieg es Pogrome in Polen, in der Ukraine, in Ungarn und in Rumänien
gab, aber nicht in Deutschland. Götz Aly erinnert uns: "Auf französische
Initiative mit britischer Unterstützung gegen russische Einwände
erreichte Bismarck auf dem Berliner Kongress 1878, dass in die
Verfassung des fortan souveränen Staates Rumänien die Artikel 43 und 44
aufgenommen werden mussten. Wegen der regelmäßigen Pogrome nahmen die
europäischen Großmächte die Juden des Landes 'als Gesamtheit in Schutz',
und die beiden Artikel legten fest, dass 'der Unterschied der Religion
und Confession niemandem gegenüber als Grund zur Ausschließung' von
bürgerlichten Rechten, Berufen, Ehrenämtern und Gewerben geltend gemacht
werden dürfe."
Der Autor zitiert den österreichischen Sozialdemokraten Johann
Wolfgang Brügel, der im Dezember 1939 im Pariser Exil die damals
aktuelle Umsiedlung der 60.000 Deutschbalten analysierte und auf die
Vorschläge französischer Rechtsblätter hinwies, die Tschechen und Polen
mögen nach dem Zusammenbruch der deutschen Zwangsherrschaft ihr früheres
Staatsgebiet zurückerhalten, aber gereinigt von irgendwelchen nationalen
Minderheiten: Es wird notwendig sein, eine massenhafte und vollkommene
Austreibung von Elementen einer fremden Minderheit durchzuführen.
"Es schein, daß das deutsche Volk die Geister, die der
Nationalsozialismus gerufen hat, nicht mehr loswerden soll." Churchill
schöpfte aus geschichtlicher Erfahrung, als er im Dezember 1944 vor dem
britischen Unterhaus argumentierte: "Die nach unserem Ermessen
befriedigendste und dauerhafteste Methode ist die Vertreibung. Sie wird
die Vermischung von Bevölkerungen abschaffen, die zu endlosen
Schwierigkeiten führt..." Churchill und Roosevelt rechtfertigten ihren
Optimismus mit dem Hinweis auf das "in vieler Hinsicht erfolgreiche
Abkommen von Lausanne". Die Konvention kodifizierte 1923 nach einem
elfjährigen Krieg den so genannten Bevölkerungsaustausch zwischen der
Türkei und Griechenland. Griechenland zählte zu jener Zeit fünf
Millionen Einwohner. Nun hatte dass Land 1,5 Millionen Flüchtlinge und
Zwangsumsiedler aus Kleinasien aufzunehmen: 300.000 starben in den
Lagern an Hunger und Seuchen.
Im Gegenzug wurden 350.000 Türken insbesondere aus Nordgriechenland
in jene Städte und Dörfer an der Küste Kleinasiens transferiert, in
denen seit mehr als zweieinhalb Jahrtausenden Griechen gelebt hatten. Da
das Kriterium der Religion galt, mussten auch 20.000 Kretatürken
moslemisierte Griechen, die kein Wort Türkisch sprachen ihre Heimat
verlassen. Erst am 10. Dezember 1948 wurde die Allgemeine Erklärung der
Menschenrechte beschlossen. "Der Inhalt dieser Proklamation wurde nach
siebzehnjähriger Arbeit im Internationalen Pakt über bürgerliche und
politische Rechte konkretisiert. Demnach sind Zwangsumsiedlungen heute
völkerrechtlich eindeutig verboten." Hier ist der Autor leider nicht auf
die Ereignisse in Indien 1947 eingegangen, wo es sowohl im neu
entstandenen Staat Pakistan als auch in Indien zur Abschlachtung von
Hunderttausenden Andersgläubigen kam und zu einer Fluchtbewegung, deren
Ergebnis die Flucht von Millionen Moslems nach Pakistan und die Flucht
einiger Millionen Nichtmoslems nach Indien.
In seinem Artikel "Nationaler Sozialismus" beantwortet er die Frage,
"wie konnte sich dieses Regime trotz seiner halsbrecherischen
Instabilität so lange und derart effizient an der Macht halten?" Seine
Antwort wird einige schockieren: "Das Dritte Reich errang seinen
innenpolitischen Zuspruch als das Reich der kleinen Leute und jener
deutschen Intellektuellen, die beschlossen hatten, ihren Klassendünkel
aufzugeben. Hitler propagierte einen "Sozialismus ohne Proletarier". Er
bot den Krauses eine gemeinsame Perspektive jenseits des Klassenkampfes,
er verstand sich als Politiker des Dritten Weges. Diese Ziele sollten
schnell erreicht werden, binnen einer Generation, mit Hilfe des
erbeuteten Eigentums und der Äcker der Vertriebenen und Ermordeten, mit
Hilfe der Rohstoffe und unter Ausbeutung der Arbeitskraft all derer, die
nicht zur deutschen Herrenrasse zählten." Die meisten Deutschen und
Österreicher fühlten sich in der Volksgemeinschaft ganz wohl, wenigstens
so lange das "Dritte Reich" noch siegreich war.
Götz Aly zeigt immer wieder auf, wie verlogen die DDR die Braunbücher
über die Bundesrepublik veröffentlichte mit der Erbschaft des
Nationalsozialismus umging. Aly zeigt die dichten braunen Flecken im
"Arbeiter und Bauernstaat" u.a. am Beispiel von Dr. Jussuf Ibrahim, der
aktiv an der Euthanasie teilnahm, trotzdem 1947 zum Ehrenbürger der
Stadt Jena gemacht wurde und später sogar den Nationalpreis I. Klasse
der DDR erhielt. All dies ereignete sich in Thüringen, wo die
Euthanasie-Morde auf keinen nennenswerten Widerstand stießen, und wo
nach 1945 kein einziger Strafprozess wegen der Massenmorde an
behinderten Menschen stattfand. Noch 1987 verweigerte die Urkundenstelle
vom Rat des Kreises Stadtroda wo viele Tausende der Euthanasie zum Opfer
fielen die Einsicht in die Sterberegister. Tatsächlich hatte des
Ministerium für Staatssicherheit (MfS) seit den sechziger Jahren unter
der Bezeichnung "Operativvorgang Ausmerzer" Untersuchungen über
Stadtroda begonnen, weil zuvor ein Ermittlungsverfahren der
Staatsanwaltschaft Göttingen gegen den ehemaligen Direktor Gerhard Kloos
eingeleitet worden war wegen Mordes in 1500 Fällen.
Die Ärztin, die zwischen 1942 und 1945 die Station für behinderte
Kinder in Stadtroda leitete und einzelne Kinder aufgrund von Gutachten
ermordete und dafür eine spezielle Gratifikation der Kanzlei des Führers
empfing, stand der Abteilung bis zu ihrer Pensionierung 1965 vor. 1933
war sie der NSDAP beigetreten, später denn der SED. Und Götz Aly
beschreibt noch einige ähnliche Karrieren, zum Beispiel einer Ärztin,
die zweifelsfrei den gewaltsamen Tod von mindestens 50 Frauen, darunter
den Mord an der kommunistischen Reichstagsabgeordneten Helene Fleischer
verantwortet. "Das musste zu einer unheilvollen Dialektik zwischen
antifaschistischer Theorie und zukunftsweisender Staatspraxis führen:
"Die Aufdeckung der vermutlichen Euthanasieverbrechen in Stadtrode
bedeutet, so schlossen die MfS-Ermittler in Gera 1965 den
Operativvorgang Ausmerzer, "daß nach Einschätzung der BV
[MfS-Bezirksverwaltung Gera] die national anerkannte und international
bekannte Dr. A. in das Verfahren einbezogen werden muß." Und weiter:
"Das Beschuldigte aus der DDR in höheren Positionen des
Gesundheitswesens stehen, könnte bei der Auswertung ein unseren
gesellschaftlichen Verhältnissen widersprechendes Ergebnis erreicht
werden. Aus diesem Grund wird vorgeschlagen, die Bearbeitung des
Vorgangs mit einer Sperrablage im Archiv des MfS abzuschließen."
In seinem Artikel "Insbesondere Leningrad muß verhungern" setzt sich
der Autor mit den Ausstellungen über die Verbrechen der Wehrmacht
kritisch und was eine seltene Ausnahme in der Historikerzunft ist
selbstkritisch auseinander.
U.a. geht er auch auf den CSU-Krawallmacher Peter Gauweiler ein, der
1997 zum Protest der alten Kameraden gegen die Ausstellung aufrief.
Gauweiler argumentierte gern mit seinem Vater, dem Wehrmachtssoldaten
Otto G., der als Invalider aus dem Krieg zurückgekehrt sei. "Letzteres
ist unbestreitbar; 1940 aber war Dr. jur Otto Gauweiler als
Stellvertretender Amtschef des Distrikts Warschau auch für die
Ummauerung des Ghettos zuständig." Das systematische Verhungernlassen
der Gefangenen entsprach der deutschen Strategie im Osten. Der schon
vorgestellte General Wagner untersagte "jede Abgabe von
Truppenverpflegungsmitteln an die Bevölkerung der besetzten Gebiete".
Ebendiese Truppen hatten sich zur Schonung der deutschen Heimat "aus dem
Lande" zu ernähren, zu plündern und rücksichtslos zu requirieren. Im
Winter 1941 kündigte Wagner an: "....daß insbesondere Leningrad
verhungern muß." Zwei Monate zuvor hatte er seiner Frau geschrieben:
"Zunächst muß man sie in Petersburg schmoren lassen, was sollen wir mit
einer 3 ½ Mill-Stadt, die sich nur auf unser Verpflegungsportemonnaie
legt. Sentimentalitäten gibt’s dabei nicht."
Ein interessantes Kapitel ist Rudol Schottlaender gewidmet, der das
Denunziantentum während des Dritten Reichs, in der DDR und in der
Bundesrepublik erlebt hatte. "In seinen Lebenserinnerungen findet sich
eine Szene aus dem Jahr 1944, als er als "Rüstungsjude" in der
Pulverfabrik Gebrüder Bock in Berlin-Buchholz arbeitete: "Einmal
erschrak ich. Ein mir vorgesetzter Arbeiter, Typ des alten
Gewerkschaftlers, immer sachlich, nie judenfeindlich, ging neben mir,
während am Horizont die Flammen eines Bombenangriffs auf Berlin zu sehen
waren. Da platzte es auch ihm heraus: 'Das sind Ihre Freunde!' An der TH
Dresden hatten kommunistische Studenten Schottlaenders Entlassung mit
Hilfe von mitgeschriebenen Zitaten aus der Vorlesung befördert, mit den
Altnazis Fachleute! Technische Intelligenz! arrangierte man sich dort
besser." Und auch (der Westberliner Innensenator) Lipschitz selbst, ein
geachteter Mann, der als "Halbjude" einiges durchgemacht hatte, verfuhr
mit einem Brief Schottlaenders denunziatorisch. 1959 wurde Schottlaender
wegen der "Verbreitung kommunistischer Propagandaparolen" aus dem
Schuldienst entfernt.
Im Verfassungsschutz-Dossier über Schottlaender war auch eine Rede
von Gustav Heinemann beigefügt, die dieser unter Mitwirkung des
Überwachten gehalten hatte. Unter der Überschrift "Endlich abberufen!"
jubelte die Springer-BZ am 30. Mai 1959. Einen Tag später antwortete die
Berliner Zeitung und bezeichnete Schottlaender als "aufrechten
bürgerlichen Humanisten" "Wie sehr die Entlassung des überaus gelehrten
deutsch-jüdischen Lehrers auch von seinen Lehrerkollegen gebilligt
wurde, zeigt jene Episode, die eine ehemalige Schülerin aus Anlass eines
Gedenkartikels zum 100. Geburtstag mitteilte.
Als Schottlaender 1982 der Einladung ehemaliger Schülerinnen zu einer
Jubiläumsfeier ddes Abiturs in Westberlin folgte, geriet der Empfang des
beliebten ‚Herrn Professors‘ besonders herzlich. Aber noch damals 23
Jahre nach der Vertreibung, waren einige Lehrer deshalb der Einladung
nicht gefolgt, weil der Vertriebene sein Kommen zugesagt hatte. Als
angeblicher Verfassungsfeind verlor der fast sechzigjährige
Schottlaender in Willy Brandts Westberlin nicht nur seinen Beamtenstatus
und seine Pensionsberechtigung. Der Innensenator erkannte ihm auch den
Status des rassisch Verfolgten ‚wegen Unwürdigkeit‘ ab, eine exekutive
Anmaßung, die das Landgericht Berlin am 26. Oktober 1962 zurückwies.
In dieser Lage berief die Ostberliner Humboldt-Universität Rudolf
Schottlaender 1960 auf den Lehrstuhl für Römische Literatur, den er bis
zu seiner Emeritierung 1965 innehatte." Auch dort geriet er mit der
Herrschaft bald wieder auseinander. Götz vermerkt, dass es leichter war
die mehrere tausend Seiten Stasi-Akten über Schottlaender anzuschauen.
Es erfordert "unendliche Geduld, im Westen, wenigstens einige
einschlägige Aktenblätter aufzuspüren." Schottlaender widmete sich an
der Humboldt-Universität dem Gedenkwerk "Verfolgte Berliner
Wissenschaft".
1964 wurde dann die Schrift nicht gedruckt, weil aufgrund der
Faktenlage die rassische, nicht die politische Verfolgung von Berliner
Wissenschaftlern durch den NS-Staat im Vordergrund stehen musste. Die
mündliche Begründung lautete damals: "Die Zionisten könnten zu viel
Kapital daraus schlagen." "Aber selbst noch 1987 verschwieg der
repräsentative Band "Wissenschaft in Berlin", den ein gedankenfaules und
wohl auch feiges Autorenkollektiv ...arrangiert hatte, die Existenz
dieses Werkes." Götz Aly würdigt diesen aufrechten Mann: "Rudolf
Schottlaender war kein Linker, kein Liberaler oder Konservativer,
sondern ein Mann, der sich einer radikalen Ethik verpflichtet sah. Er
wandte sich der Welt zu und erschien deshalb als weltfremd."
Dieses 254 Seiten umfassende Buch, im knappen, sachlichen Stil
geschrieben, bietet für jeden an Zeitgeschichte interessierten Leser
eine spannende Lektüre, denn es schildert nicht nur wie es gewesen ist
sondern versucht auch zu erklären, wieso es so gewesen ist. Es regt zum
Nachdenken an und sollte breite Verbreitung finden.