Götz Aly:
Hitlers Volksstaat und Volkes Stimme
Zwei
Rezensionen von Karl Pfeifer
Götz Aly
postuliert in seinem Buch "Hitlers Volksstaat", das jetzt auch als
Taschenbuch erschien: "Wer von den Vorteilen für die Millionen einfacher
Deutscher nicht reden will, der sollte vom Nationalsozialismus und vom
Holocaust schweigen."
Man könnte diesen
Satz umkehren und sagen, weil so viele Mitglieder der
deutsch-österreichischen Volksgemeinschaft vom Raub, Rassenkrieg und
NS-Regime profitiert haben, neigt die Mehrheit noch heute dazu vom Holocaust
zu schweigen und äußern sogar einige – in Österreich auch Politiker –
Nostalgie.
In seinem Buch
dokumentiert Aly einerseits die Methoden des Raubs andererseits die
sozialpolitischen Wohltaten, die gute Versorgung und die kleinen
Steuergeschenke. Er zitiert einen deutschen Juden, der als britischer
Offizier 1945 nach Köln kam und überrascht wurde: "Die Leute entsprechen der
Zerstörung nicht. Sie sahen gut aus, rosig, munter, gepflegt und recht gut
gekleidet. Ein ökonomisches System, das von Millionen fremder Hände und mit
dem Raube des ganzen Erdteiles bis zum Ende aufrechterhalten wurde, zeigte
hier seine Ergebnisse."
Die Thesen von Götz
Aly stießen auf heftigen Widerspruch. Im Nachwort zur Taschenbuchausgabe
antwortet er seinen Kritikern und erklärt das Buch sei keine Gesamterklärung
der NS-Zeit. Das ist tatsächlich so.
Hitler und die
Nationalsozialisten hatten eine panische Angst davor, dass sich November
1918 mit Hungerdemonstrationen und Aufstände in Deutschland wiederholen
könnten, das hat dazu geführt, dass die Versorgung der Volksgemeinschaft bis
zu letzt gesichert wurde. Dies bedeutet nicht, dass der Nationalsozialismus
– seine eigenen antikapitalistischen Schlagwörter ernst genommen – den
Kapitalismus abgeschafft hätte. Noch fehlt eine Bilanz welchen Nutzen
Mitglieder der Volksgemeinschaft und welchen die Großbetriebe gezogen haben.
Aly hat den im
'Altreich' zumeist passiven Antisemitismus als "eine schleichende
Imprägnierung im Sinne weit verbreiteter Gleichgültigkeit gegenüber dem
Schicksal der Juden" beschrieben. Freilich wurden nicht nur die deutschen
und österreichischen Juden, sondern auch diejenigen, die unter deutsche
Herrschaft kamen für den unmittelbaren Nutzen der Reichskasse ausgeraubt.
"Dafür bedurfte es selbstverständlich einer Propaganda, welche die Juden als
Parasiten, Verräter und Untermenschen darstellte und sie als soziale
Fremdlinge isolierte." Er weist darauf hin, dass die Ausraubung der
Juden schließlich keine Erfindung der Nationalsozialisten war, sondern
bereits vor Jahrhunderten in Deutschland (und anderswo in Europa) von
Christen gelegentlich praktiziert wurde.
Ob sich der
nationalsozialistische Völkermord lediglich damit erklären lasse, dass man
die Zeugen dieses Raubes beseitigen wollte und um die Möglichkeit der Rache
auszuschließen, wie das Hermann Göring 1942 behauptet hatte, daran darf
gezweifelt werden. Götz Aly hat Fakten und Zusammenhänge aufgedeckt, die zu
weiteren Forschungsarbeiten anregen. Seine Wertungen sind Anlass zu weiteren
Diskussionen.
Die 480 Seiten
umfassende Arbeit ist in der ausgezeichneten schwarzen Taschenbuchreihe des
Fischer-Verlags erschienen, die es auch jungen Menschen ermöglicht Bücher
über die Herrschaft der Nationalsozialisten – für weniger als der
Preis eines Mittagessens – zu erwerben.
Volkes Stimme
Meinungsforschung
gab es nicht im "Dritten Reich", die Stimmungsberichte der Gestapo können
nicht als solche betrachtet werden. Götz Aly hat mit seinen Studierenden
versucht, eine historische Demoskopie zu erstellen, die zu überraschenden
Ergebnissen kommt.
Die Adolf-Kurve
1932-1945 von Oliver Lorenz
erkundet welche Vornamen die Deutschen ihren Söhnen gegeben haben und stellt
jene Erklärungsmuster in Frage, die den Rückhalt der NS-Führung im Volk auf
eine besonders hohe naziideologische Durchdringung zurückführen.
Swen Granzow,
Bettina Müller-Sidibé und Andrea Simml analysieren Gottvertrauen und
Führerglaube und kommen zum Ergebnis, dass bereits vor Beginn des
Zweiten Weltkriegs die Austritte aus den Kirchen rapide abnahmen und 1945
ein historisches Tief erreichten. Die Kirchen schienen einen Halt zu geben.
Philipp Kratz belegt
wie Sparen für das kleine Glück zum Indikator des Vertrauens der
Bevölkerung wurde. 1943 kursierte der Witz: "Was heißt ‚eisern sparen’ auf
Chinesisch? – Futschi, Futschi!"
Holger Schlüter
belegt mit Terrorinstanz Volksgerichtshof, wie dieser ab 1940 immer
mehr Todesurteile fällte.
Mit Der feine
Unterschied im Heldentod / Gefallen für Führer oder Vaterland
schildern Oliver Schmitt und Sandra Westenberger was man aus den
Gefallenenanzeigen in den Zeitungen über die Stimmung der Bevölkerung.
lernen kann.
Albert Müller meint
in Gesamtstatistik – ein Experiment: "Der Vorteil indirekter
Messungen liegt gewissermaßen in ihrer Absichtslosigkeit.
Herausgeber Götz Aly
resümiert mit Ideologie, Skepsis und Angst : "Die Deutschen hatten
sich in eine Situation manövriert, aus der sie spätestens seit 1942 keine
Möglichkeit mehr zur Umkehr sahen. Obwohl ihre Skepsis gegenüber der eigenen
Führung ständig wuchs, blieben sie in ihr schlechtes Gewissen gebannt. Im
Gefühl der Ausweglosigkeit verharrten sie in stumpfer, keinesfalls
begeisterter Staatsloyalität."
Aly veröffentlicht
mit einer editorischen Vorbemerkung auch Görings Erntedankrede vom 4.
Oktober 1942, in der er – zu einer Zeit als in den Vernichtungslagern Juden
mit industriellen Methoden massengemordet werden – auch auf "die Juden" zu
sprechen kam, zum Beispiel so: "Wir kennen den Juden! Das, sie sollen sich
doch nicht einbilden, die Herren Churchill und Roosevelt, wie sie heißen,
sie sind ja alles lächerlich kleine Marionetten, versoffen und gehirnkranke
Menschen, die am Drahte des Juden bammeln. Dahinter, mag er sich
verschiedene Visagen aufsetzen, seine Gurke kommt doch durch: Der Jude ist
hinter allem, und er ist es, der uns den Kampf auf Tod und Verderben
angesagt hat."
Auch dieser Band aus
der schwarzen Reihe des Fischer-Verlags wird die Forschung und Diskussionen
anregen.
hagalil.com
14-02-07 |