Mein erster Schreibtisch
Von Mira Magén
Mein erster Schreibtisch stammte aus einem Geschäft für gebrauchte Möbel
und hatte ein wackeliges Bein. Nachdem er neu gestrichen und das
wackelige Bein repariert worden war, wurde er in das vollgestopfte
Zimmer gestellt, das ich mir mit meinen drei Brüdern teilte. Meinen
Eltern wurde sehr bald klar, dass ein Schreibtisch für mich ebenso
wichtig war wie eine Scheibe Brot und das Glas Milch, das ich zum
Frühstück bekam.
Meine Eltern, orthodoxe Juden, die als
Bauern lebten, kamen aus Polen und der Tschechoslowakei. Sie verflochten
ihr Schicksal mit den Himmeln und dem Land und hatten sich einem streng
religiösen Lebensstil verschrieben, dessen Fundament absolute moralische
Werte waren. Die Schwierigkeiten, die ihre junge Tochter damit hatte,
ihren Platz in diesem fordernden Gefüge zu finden, blieben ihnen nicht
verborgen.
Sie bemerkten erste Ansätze zur
Rebellion und waren klug genug, Papier bereit zu legen, das der
rastlosen Seele ihrer Tochter als Resonanzboden dienen sollte. Es ist
wahr, sobald ich meine Buchstaben auch lesen konnte, begann ich zu
schreiben. Mein Stift half mir, mit der geschlossenen und ernsten Welt
zurecht zu kommen, in der die Freiheit zu wählen beschränkt war, er
erspürte die Grübeleien der Seele und ihre Wünsche, ihren Aufruhr und
kreativen Impuls.
Die Erfahrungen meiner Kindheit speisten sich aus der Bibel, der
Tradition und aus der Natur, die um mich war. Meine Familie, die ihren
Unterhalt mit Landwirtschaft verdiente, war ganz und gar eingestimmt auf
die Rhythmen der Natur: Flora und Fauna waren uns nah, wir waren
abhängig von den Jahreszeiten und den himmlischen Kräften, von Wolken,
Regen und Wind. Sie alle waren elementare Partner in unserer Lebenswelt.
Die Avocado- und Paradiesapfelbäume, die mein Vater zog, waren wie
Brüder für mich, meine Sorge um ihr Wohlergehen entsprach unserer Angst
um unsere eigene Gesundheit. Unser Schicksal war verschlungen mit dem
ihren.
Meine geistigen Erfahrungen, die sich vor allem auf jüdische Inhalte
gründeten, wurden um ein Vielfaches reicher durch die Entdeckung der
öffentlichen Bibliothek. Die Bibliothek brachte mir seltsame neue Welten
nahe, und indem ich die Kinder-Klassiker las, öffnete ich mich langsam
säkularer westlicher Kultur. Diese Bücher offenbarten mir unbekannte,
aufregende Lebensformen, sie regten mich an, mehr zu lernen, und ließen
mich bald zu der Überzeugung kommen, daß ich mein Leben nicht so führen
würde wie meine Eltern das ihre. Mein Eintritt in die israelische Armee,
als ich achtzehn Jahre alt war, markierte meinen ersten Abschied von der
Welt, aus der ich kam.
Damals begann ich zum ersten Mal an allem zu zweifeln, was mir als
»richtig « beigebracht worden war. Gierig verschlang ich alles, was die
westliche Kultur mir bot, ich ent deckte Virginia Woolf, Marguerite
Yourcenar, Robert Musil, Melville und Kafka. Auch Camus und Sartre
hinterließen einen tiefen Eindruck. Die Existenzphilosophie gewährte mir
Teilantworten auf meine täglichen Zweifel und Fragen und eine gewisse
Entlastung angesichts des tiefen Konflikts, den die absoluten Werte
meiner Kindheit in mir entfachten. Während ich versuchte, die
kulturellen Lücken zu schließen, machte ich mein B.A. in
Verhaltensforschung (Psychologie und Soziologie).
Meine Neugier, was menschliches Handeln und seine Motive anging, und das
Ausmaß freier Willensentscheidung, das jedes Individuum in seinem
eigenen Leben je unterschiedlich verwirklicht, brachten mich auf die
Krankenpflege. Nachdem ich einen zweiten akademischen Grad in
Verhaltensforschung erworben und meine Krankenschwesterausbildung
abgeschlossen hatte, arbeitete ich auf der Inneren Abteilung im
Mount-Scopus-Hadassah-Krankenhaus in Jerusalem.
Im Krankenhaus, dem eigentlichen Mikrokosmos der menschlichen Erfahrung,
sah ich, wie Menschen mit den extremsten Lebenssituationen zurechtkommen
mussten, ich beobachtete den verstörenden Dialog zwischen Körper und
Geist. Die Willkür von Krankheit erschütterte meinen Glauben in das
Verhältnis von Ursache und Wirkung, ich begriff die Kontrolle, die ich
über mein Leben habe, anders, meine Erwartungen veränderten sich.
Der tägliche Umgang mit Krankheit und
der Zerstörung von Leben waren der wesentliche Katalysator, dem sich
mein Entschluß zu schreiben verdankte. Die fiktive Welt, die ich beim
Schreiben entwarf, war ein scharfer Gegen entwurf zur realen Welt.
Während meine Kontrolle über das, was das Schicksal bereithält, in der
realen Welt minimal ist, entscheide ich, wenn ich am Schreibtisch sitze,
über Schicksale, ich bemesse das Glück und den Schmerz meiner Figuren,
ich entscheide, wer leben und wer sterben wird.
Mein Schreiben dreht sich um Gestaltung
und Planung, um Kohärenz und die Beziehung zwischen Ursache und Wirkung.
Diese Erfahrung, ein Widerspruch zu meinem chaotischen Alltag, ist mein
Anker. Eines Morgens, 1994, ich war gerade dabei, einem meiner Patienten
eine Infusion zu legen, rief mich ein Kollege zum Telefon. Die sterilen
Handschuhe noch an den Händen hörte ich, wie der Cheflektor des
Keter-Verlages mir mitteilte, daß mein Manuskript ›Gut zugeknöpft‹
akzeptiert worden war.
Das Buch wurde ein Bestseller. Ich
gewann den Preis für literarische Debüts des Ministeriums für
Wissenschaft und Künste. Die Erzählungen werden am Gymnasium und an der
Literaturwissenschaftlichen Fakultät der Bar-Ilan-Universität gelehrt.
Drei Jahre später erschien mein erster Roman ›Klopf nicht an diese Wand
‹. In der Zwischenzeit wurden einige meiner Erzählungen in
Literaturbeilagen in Israel und in zahlreichen Anthologien, auch im
Ausland, veröffentlicht. Mein dritter Roman, ›Love after all‹, ist
gerade in Israel erschienen.
© Mira Magén, 2000
Deutsch von Patricia Reimann
Mira Magén, Anfang der fünfziger
Jahre in Kfar Saba (Israel) geboren, blieb der orthodoxen, ostjüdisch
geprägten Welt ihrer Kindheit bis heute verhaftet, die Stationen ihrer
Biographie jedoch lassen eine Revolte ahnen: Studium der Psychologie und
Soziologie, Ehe und Kinder, alle fünf Jahre ein anderer Beruf -
Lehrerin, Sekretärin, Krankenschwester und schließlich
Schriftstellerin.
Bereits ihre Erzählungssammlung
›Gut zugeknöpft‹ (dt. 1997) gewann in Israel höchste Anerkennung
von Kritik und Publikum. ›Klopf nicht an diese Wand‹, ihr erster Roman,
stand monatelang auf der Bestsellerliste. |