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Primo Levi:
Die Atempause
Tauwetter
Primo Levi wurde 1919 als Sohn
jüdischer Eltern in Turin geboren. Er studierte Chemie und
promovierte 1941. Als Mitglied einer piemontesischen
Partisanengruppe wurde er 1943 verhaftet und nach Auschwitz
deportiert. Nach seiner Repatriierung arbeitete er in der chemischen
Industrie, zuletzt als Direktor einer Fabrik. 1977 zog er sich aus
dem Berufsleben zurück, um sich ganz dem Schreiben zu widmen. Bis zu
seinem Freitod 1987 lebte Levi in Turin. |
Als die Rote Armee die
Überlebenden in Auschwitz befreit, beginnt für den jungen Primo eine
lange Odyssee zurück in die Heimat und damit zurück ins Leben:
"In den ersten Januartagen 1945 hatten die Deutschen unter dem
Druck der inzwischen näher gerückten Roten Armee in aller Eile das
schlesische Kohlebecken evakuiert. Während sie an anderen Orten unter
ähnlichen Umständen nicht gezögert hatten, die Lager samt ihrer Insassen
zu verbrennen oder durch Waffengewalt zu vernichten, verfuhren sie im
Bezirk Auschwitz anders: Auf Befehl von oben (offenbar von Hitler
persönlich diktiert) mußte jede arbeitsfähige Person, koste es, was es
wolle, »geborgen« werden. Alle gesunden Häftlinge wurden deshalb unter
grauenhaften Umständen nach Buchenwald und Mauthausen evakuiert, während
man die Kranken sich selber überließ. Es gibt verschiedene Anzeichen für
die Annahme, daß die Deutschen ursprünglich die Absicht hatten, keinen
einzigen Menschen lebend in den Konzentrationslagern zurückzulassen;
aber durch einen massiven nächtlichen Luftangriff und die
Geschwindigkeit des russischen Vormarsches wurden sie veranlaßt, ihre
Absicht zu ändern, ihr Werk unvollendet zu lassen und, ohne ihre Pflicht
erfüllt zu haben, die Flucht zu ergreifen.
Wir waren etwa achthundert, die im Krankenbau von
Buna-Monowitz zurückblieben. Davon starben ungefähr fünfhundert infolge ihrer
Krankheiten, erfroren oder verhungerten, noch ehe die Russen kamen, und weitere
zweihundert starben trotz aller Hilfe in den unmittelbar folgenden Tagen.
Die erste russische Patrouille tauchte gegen Mittag des 27. Januar 1945 in
Sichtweite des Lagers auf. Charles und ich entdeckten sie zuerst: Wir waren
dabei, die Leiche Sómogyis, des ersten, der aus unserem Raum gestorben war, in
das Massengrab zu transportieren. Wir kippten die Bahre auf dem zertretenen
Schnee aus, denn da das Grab inzwischen voll war, gab es keine andere
Begräbnismöglichkeit. Charles nahm die Mütze ab, um die Lebenden und die Toten
zu grüßen.
Es waren vier junge Soldaten zu Pferde; vorsichtig
ritten sie mit erhobenen Maschinenpistolen die Straße entlang, die das Lager
begrenzte. Als sie den Stacheldrahtzaun erreicht hatten, hielten sie an, um sich
umzusehen, wechselten scheu ein paar Worte und blickten wieder, von einer
seltsamen Befangenheit gebannt, auf die durcheinanderliegenden Leichen, die
zerstörten Baracken und auf uns wenige Lebende.
Sie erschienen uns auf wunderbare Weise körperlich
und wirklich, hoch oben (die Straße lag höher als das Lager) auf ihren
ungeheuren Pferden zwischen dem Grau des Schnees und dem Grau des Himmels,
regungslos unter den Tauwetter verheißenden Windstößen. Es schien uns, als hätte
das vom Tod erfüllte Nichts, in dem wir seit zehn Tagen wie erloschene Sterne
kreisten, ein festes Zentrum bekommen, einen Kondensationskern, und so war es
wohl auch: vier bewaffnete Männer, aber nicht gegen uns bewaffnet: vier
Friedensboten mit bäuerischen, kindlichen Gesichtern unter den schweren
Pelzmützen.
Sie grüßten nicht, lächelten nicht; sie schienen
befangen, nicht so sehr aus Mitleid, als aus einer unbestimmten Hemmung heraus,
die ihnen den Mund verschloß und ihre Augen an das düstere Schauspiel gefesselt
hielt. Es war die gleiche wohlbekannte Scham, die uns nach den Selektionen und
immer dann überkam, wenn wir Zeuge einer Mißhandlung sein oder sie selbst
erdulden mußten: jene Scham, die die Deutschen nicht kannten, die der Gerechte
empfindet vor einer Schuld, die ein anderer auf sich lädt und die ihn quält,
weil sie existiert, weil sie unwiderruflich in die Welt der existenten Dinge
eingebracht ist und weil sein guter Wille nichts oder nicht viel gilt und
ohnmächtig ist, sie zu verhindern.
So schlug auch die Stunde der Freiheit für uns
ernst und lastend und erfüllte unsere Seelen mit Freude und zugleich einem
schmerzlichen Schamgefühl, um dessentwillen wir gewünscht hätten, unser
Bewußtsein und unser Gedächtnis von dem Greuel, den es beherbergte,
reinzuwaschen: und mit Qual, weil wir spürten, daß es nicht möglich war, daß nie
irgend etwas so Gutes und Reines kommen könnte, das unsere Vergangenheit
auslöschen würde, und daß die Spuren der Versündigung für immer in uns bleiben
würden, in der Erinnerung derer, die es miterlebt haben, an den Orten, wo es
geschehen war, und in den Berichten, die wir darüber abgeben würden. Daher - und
dies ist das ungeheuerliche Privileg unserer Generation und meines Volkes - hat
niemals jemand besser als wir die unheilbare Natur der Versündigung begreifen
können, die sich ausbreitet wie eine ansteckende Krankheit. Es ist unsinnig, zu
glauben, sie könne durch menschliche Gerechtigkeit getilgt werden. Sie ist eine
unerschöpfliche Quelle des Bösen: Sie zerbricht Körper und Seele des
Betroffenen, löscht sie aus, erniedrigt sie; sie fällt als Schande auf die
Unterdrücker zurück, schwelt als Haß in den Überlebenden fort und wuchert weiter
auf tausend Arten, gegen den Willen aller, als Rachedurst, als moralisches
Nachgeben, als Verleugnung, als Müdigkeit und als Verzicht.
Diese Dinge, damals nur undeutlich und von den meisten nur als plötzliche
Welle tödlicher Erschöpfung gespürt, mischten sie in unsere Freude über die
Befreiung. Deshalb rannten nur wenige von uns den Rettern entgegen, verfielen
nur wenige ins Gebet. Charles und ich standen nur regungslos neben der von
leichenblassen Gliedern überquellenden Grube, während andere den Stacheldraht
niederrissen; dann gingen wir mit der leeren Bahre wieder zurück, um unseren
Kameraden die Nachricht zu bringen.
Den ganzen übrigen Tag geschah gar nichts, etwas,
was uns nicht überraschte und woran wir seit langem gewöhnt waren. In unserem
Raum wurde das Bett des Toten Sómogyi zum offensichtlichen Abscheu meiner beiden
französischen Kameraden sofort von dem alten Thylle besetzt.
Thylle war, soviel wußte ich damals von ihm, ein roter »Winkel«, ein
deutscher politischer Gefangener und einer der alten Lagerinsassen; als solcher
hatte er aus angestammtem Recht zur Aristokratie des Lagers gehört, hatte keine
körperliche Arbeit verrichten müssen (zumindest in den letzten Jahren nicht) und
hatte von zu Hause Nahrungsmittel und Kleidung erhalten. Aus ebendiesen Gründen
waren die »politischen« Deutschen sehr selten zu Gast im Krankenbau, wo sie
außerdem noch verschiedene Privilegien genossen: darunter das entscheidende, den
Selektionen zu entgehen. Da er im Augenblick der Befreiung der einzige seiner
Art war, hatte ihn die fliehende SS als Blockältesten für Block 20 eingesetzt,
zu dem außer unserem Raum mit lauter hoch infektiösen Kranken noch die
Tbc-Abteilung und die Ruhr-Abteilung gehörten.
Als Deutscher hatte er diese vorläufige Ernennung
sehr ernst genommen. In den zehn Tagen, die das Verschwinden der SS von der
Ankunft der Russen trennten, hatte Thylle, während jeder einen letzten Kampf
gegen Hunger, Kälte und Krankheit führte, seinen neuen Herrschaftsbereich
eingehend inspiziert, den Zustand der Böden und Essnäpfe und die Zahl der Decken
kontrolliert (eine für jeden, ob er nun lebte oder tot war). Bei eine seiner
Visiten in unserem Raum hatte er sogar einmal Arthur gelobt wegen der Ordnung
und Sauberkeit, die er mit Mühe aufrechterhalten hatte; Arthur, der kein Deutsch
verstand und Thylles sächsischen Dialekt erst recht nicht, hatte ihm
geantwortet: »Vieux dégoutant« und »putain de boche«; trotzdem hatte es sich
Thylle von jenem Tag an zur Gewohnheit gemacht, jeden Abend in unserem Raum zu
kommen - wobei er eindeutig seine Befugnisse überschritt - und von dem
komfortablen Holzeimer, der dort installiert war, Gebrauch zu machen: im ganzen
Lager der einzige, der regelmäßig in Ordnung gehalten wurde und der in der Nähe
eines Ofens aufgestellt war.
... Der Morgen brachte uns die ersten Anzeichen
der Freiheit. Es erschienen (offensichtlich von den Russen geschickt) ungefähr
zwanzig polnische Zivilisten, Männer und Frauen, die sich mit sehr geringem
Enthusiasmus daran machten, Ordnung und Sauberkeit zwischen den Baracken
herzustellen und die Leichen beiseite zu schaffen. Gegen Mittag erschien ein
verängstigtes Kind, das eine Kuh an einem Strick hinter sich herzog. Es gab zu
verstehen, daß sie für uns sei und daß die Russen sie schickten, dann ließ es
das Tier los und rannte davon wie der Blitz. Ich weiß nicht wie, aber in wenigen
Minuten war das arme Tier geschlachtet, ausgenommen und zerlegt und die Stücke
in alle Winkel des Lagers verteilt, wohin sich die Überlebenden verkrochen
hatten.
Vom nächsten Tag an sahen wir polnische Mädchen
bleich vor Mitleid und Abscheu im Lager herumgehen. Sie wuschen die Kranken und
verbanden, so gut es ging, die Wunden. In der Mitte des Lagers zündeten sie ein
ungeheures Feuer an, nährten es mit den Trümmern der zerstörten Baracken und
kochten darauf in allen möglichen Gefäßen Suppe. Schließlich, am dritten Tag,
sah man einen vierrädrigen Karren in das Lager einfahren, triumphierend
kutschiert von Yankel, einem Häftling: Er war ein junger russischer Jude,
vielleicht der einzige unter den Überlebenden, und als solcher hatte er
natürlicherweise die Funktion eines Dolmetschers und Verbindungsoffiziers zu den
sowjetischen Kommandos übernommen. Unter lautem Peitschengeknall verkündete er,
daß er den Auftrag habe, alle noch Lebenden in das Stammlager Auschwitz zu
bringen, das in ein riesiges Lazarett umgewandelt worden sei, und zwar in
kleinen Gruppen zu dreißig oder vierzig pro Tag, die Schwerkranken zuerst.
Inzwischen war das Tauwetter eingetreten, das wir seit so vielen Tagen
gefürchtet hatten, und in dem Maße, wie der Schnee allmählich verschwand,
verwandelte sich das Lager in einen ekelerregenden Morast. Der Geruch von
Leichen und Unrat verpestete die Luft. Und der Tod hatte nicht aufgehört zu
mähen: Dutzendweise starben die Kranken auf ihren kalten Pritschen, es starben
hier und dort auf den schlammigen Wegen wie vom Blitz getroffen die gierigsten
Überlebenden, die sich blindlings dem gebieterischen Antrieb unseres alten
Hungers folgend, vollgestopft hatten mit den Fleischrationen der Russen, die
noch in Kämpfe an der nahen Front verwickelt waren und diese Zuwendungen in
unregelmäßigen Abständen ins Lager schickten, mal wenig, mal gar nichts, mal in
ungeheuerlichem Überfluß.
Ich nahm aber alles, was um mich herum vorging,
nur bruchstückhaft und undeutlich auf. Es war, als hätten Erschöpfung und
Krankheit wie wilde feige Tiere im Hinterhalt den Augenblick abgewartet, an dem
ich keinerlei Abwehrkräfte mehr hatte, um mich hinterrücks zu überfallen. Ich
lag in einem fiebrigen Dämmerschlaf, nur halb bei Bewußtsein, brüderlich
gepflegt von Charles und gequält von Durst und heftigen Schmerzen in den
Gelenken. Es gab keine Ärzte, und es gab keine Medikamente. Auch Halsweh hatte
ich, und die eine Gesichtshälfte war geschwollen: Die Haut, rot und rauh
geworden, schmerzte wie bei einer Verbrennung. Vielleicht hatte ich mehrere
Krankheiten gleichzeitig. Als die Reihe, Yankels Karren zu besteigen, an mich
kam, war ich nicht mehr in der Lage, mich auf den Beinen zu halten.
Charles und Arthur hoben mich auf den Karren zu
einer Ladung Sterbender; ich hatte das Gefühl, mich nicht allzusehr von ihnen zu
unterscheiden. Es regnete, und der Himmel hing niedrig und dunkel. Während mich
der langsame Trab von Yankels Pferden der fernen Freiheit näher brachte, zogen
zum letzten Mal die Baracken an meinen Augen vorüber, in denen ich gelitten
hatte und reifer geworden war, der Appellplatz, auf dem sich noch immer Seite an
Seite der Galgen und ein riesiger Weihnachtsmann erhoben, und das Tor der
Sklaverei, auf dem noch immer, nun nichtig geworden, die drei Hohnworte zu lesen
waren: ARBEIT MACHT FREI".
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