Leseprobe
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Der
strenge Geruch feuchter Wolle.
So würde sich Kurt Wallander an seine Autofahrt durch Riga in jener
Nacht erinnern. Er hatte sich geduckt und auf ' den Rücksitz gesetzt,
und noch bevor sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnen konnten,
hatten unbekannte Hände ihm hastig eine Kapuze über den Kopf gezogen.
Sie hatte nach Wolle gerochen, und als ihm allmählich der Schweiß aus
den Poren drang, hatte seine Haut angefangen zu jucken. Aber seine
Angst, das beklemmende Gefühl, daß etwas nicht stimmte, ganz und gar
nicht stimmte, war wie weggeblasen, als er auf dem Rücksitz lag. Eine
Stimme, von der er annahm, daß sie zu den Händen gehörte, die ihm die
Kapuze über den Kopf gezogen hatten, redete beruhigend auf ihn ein. We
are no terrorists. We just have to be cautious. Er hatte die Stimme des
Anrufers wiedererkannt, die Stimme, die nach Herrn Eckers gefragt hatte,
um sich dann dafür zu entschuldigen, sich verwählt zu haben. Die
beruhigende Stimme klang überzeugend, und später dachte er daß die
Menschen in den chaotischen und zerfallenden Staaten Osteuropas genau
dies lernen mußten. Völlig überzeugend zu wirken, wenn sie beteuerten,
daß es nichts Bedrohliches gab, wenn in Wirklichkeit alles bedrohlich
war. Das Auto war unbequem. Das Motorengeräusch sagte ihm, daß es
ein russisches Fabrikat war, vermutlich ein Lada. Er konnte nicht
herausfinden, wie viele Menschen sich im Auto befanden, es waren
mindestens zwei, denn vor ihm saß jemand, der hustete und fuhr und neben
ihm saß der Mann, der beruhigend auf ihn eingeredet hatte. Hin und
wieder, wenn eines der Fenster heruntergekurbelt wurde, damit der
Zigarettenrauch abziehen konnte, drang ein kalter Luftzug an sein
Gesicht. Für einen kurzen Moment meinte er einen schwachen Parfümgeruch
im Auto wahrzunehmen, Baiba Liepas Parfüm, aber im nächsten Moment
begriff er daß dies Einbildung oder vielleicht Wunschdenken war. Es war
unmöglich herauszufinden, ob sie langsam oder schnell fuhren. Aber
plötzlich veränderte sich der Straßenbelag, und er nahm an, daß sie die
Stadt hinter sich gelassen hatten. Von Zeit zu Zeit wurde der Wagen
abgebremst und bog ab, einmal fuhren sie durch einen Kreisverkehr. Er
versuchte zu schätzen, wie lange sie unterwegs waren, hatte aber bald
jedes Zeitgefühl verloren. Endlich endete die Fahrt irgendwo. Der Wagen
bog ein letztes Mal ab und rumpelte und holperte, als fahre er
querfeldein. Der Fahrer schaltete den Motor ab, die Türen wurden
geöffnet, und man half ihm aus dem Wagen.
Es war kalt, und er meinte den Geruch von Tannen wahrzunehmen. Jemand
hielt ihn am Arm, damit er nicht stolperte. Er wurde eine Treppe
hinaufgeführt, eine Tür quietschte in den Scharnieren, und er betrat
einen Raum, in dem es warm war. Der Geruch von Petroleum schlug ihm
entgegen, und plötzlich wurde ihm die Kapuze vom Kopf gezogen. Er
erschrak, weil er plötzlich wieder sehen konnte. Der Schock war jetzt
größer als vorhin, als man ihm die Kapuze über das Gesicht gestülpt
hatte. Der Raum war länglich und hatte grobgezimmerte Holzwände, und
sein erster Gedanke war daß er sich in einer Art Jagdhütte befand. Ein
Hirschkopf hing über einem offenen Kamin an der Wand, die Möbel im Raum
waren aus hellem Holz gefertigt, und zwei Petroleumlampen bildeten die
einzige Beleuchtung.
Der Mann mit der beruhigenden Stimme ergriff wieder das Wort. Sein
Gesicht entsprach nicht dem Bild, das Wallander sich gemacht hatte -
soweit er sich überhaupt ein Bild gemacht hatte. Der Mann war klein
gewachsen und ungeheuer mager als habe er ein schweres Leiden
durchgemacht oder sich frei willig einer Hungerkur unterzogen. Das
Gesicht war blaß, eine dicke Hornbrille schien allzu groß und schwer auf
seinen Backenknochen zu ruhen, und Wallander konnte nicht sagen, ob der
Mann fünfundzwanzig oder fünfzig war. Er lächelte jedenfalls und zeigte
auf einen Stuhl. Wallander setzte sich. Sit down, please, sagte der Mann
mit der ruhigen Stimme. Aus der Dunkelheit tauchte lautlos ein anderer
Mann mit einer Thermoskanne und ein paar Tassen auf. Vielleicht ist es
der Fahrer dachte Wallander. Er war älter dunkelhaarig, ein Mensch, der
selten zu lächeln schien. Wallander bekam eine Tasse Tee, die zwei
Männer setzten sich an die andere Seite des Tisches, und der Fahrer
drehte vorsichtig den Docht der Petroleumlampe hoch. Ein fast unhörbares
Geräusch drang an Wallanders Ohr. Es kam aus der Dunkelheit jenseits des
Lichtkegels, den die Petroleumlampen verbreiteten. Hier ist noch jemand,
dachte er. Jemand, der gewartet hat, jemand, der Tee gekocht hat.
»Außer Tee können wir Ihnen leider nichts anbieten«, sagte der Mann mit
der beruhigenden Stimme. »Aber Sie haben ja zu Abend gegessen, kurz
bevor wir Sie abgeholt haben, Herr Wallander. Wir werden Sie auch nicht
lange aufhalten.«
Etwas an diesen Worten machte Wallander wütend. Solange er Herr Eckers
gewesen war hatte er noch das Gefühl gehabt, daß ihn das Ganze
eigentlich persönlich gar nichts anging. Aber jetzt war er Herr
Wallander, und von ihren unsichtbaren Gucklöchern aus hatten sie ihn
überwacht, hatten ihn essen sehen und nur den kleinen Fehler begangen,
wenige Sekunden zu früh anzurufen, noch bevor er dazu gekommen war die
Tür zu seinem Zimmer aufzuschließen.
»Ich habe allen Grund, Ihnen zu mißtrauen«, sagte er. »Ich weiß nicht
einmal, wer Sie sind. Wo ist Baiba Liepa, die Witwe des Majors?«
»Sie müssen meine Unhöflichkeit entschuldigen. Mein Name ist Upitis. Sie
können völlig beruhigt sein. Sobald unser Gespräch hier beendet ist,
werden Sie in Ihr Hotel zurückkehren können. Das garantiere ich Ihnen.«
Upitis, dachte Wallander. Wie Herr Eckers. Wie auch immer er
heißen mag, so heißt er bestimmt nicht.
»Die Garantie eines Unbekannten ist nichts wert«, sagte Wallander. »Sie
entführen mich, mit einer Kapuze über dem Kopf.« (Hieß Kapuze wirklich
hood?) »Ich bin auf Frau Liepas Bedingungen zu diesem Treffen
eingegangen, weil ich ihren Mann kannte. Ich nahm an, sie könne mir
etwas erzählen, was der Polizei Klarheit darüber verschafft, warum Major
Liepa sterben mußte. Wer Sie sind, weiß ich nicht. Ich habe also allen
Grund, Ihnen zu mißtrauen.«
Der Mann, der behauptete, Upitis zu heißen, nickte nachdenklich und
zustimmend.
»Ich bin ganz Ihrer Meinung«, sagte er. »Aber Sie dürfen nicht glauben,
daß wir ohne Grund so vorsichtig sind. Es handelt sich leider um
unverzichtbare Vorsichtsmaßnahmen. Frau Liepa kann heute abend nicht bei
uns sein. Aber ich spreche in ihrem Auftrag mit Ihnen.«
»Wie soll ich mir dessen sicher sein? Was wollen Sie eigentlich von
mir?«
»Wir möchten, daß Sie uns helfen.«
»Warum glauben Sie, mir einen falschen Namen nennen zu müssen? Warum ein
geheimer Treffpunkt?«
»Wie ich Ihnen bereits gesagt habe, ist dies leider notwendig. Sie sind
noch nicht sehr lange in Lettland, Herr Wallander. Sie werden es später
verstehen.«
»Wie soll ich Ihnen überhaupt helfen können?«
Wieder hörte er das kaum wahrnehmbare Geräusch aus der Dunkelheit hinter
dem schwachen Lichtschein der Petroleumlampen. Baiba Liepa, dachte er.
Sie zeigt sich nicht, aber sie ist hier, ganz in meiner Nähe.
»Sie müssen sich noch ein paar Minuten gedulden«, fuhr Upitis fort.
»Lassen Sie mich etwas über Lettland erzählen.« »Ist das wirklich
nötig? Lettland ist ein Land wie andere Länder auch. Obwohl ich gestehen
muß, daß ich die Landesfarben nicht kenne.«
»Ich glaube schon, daß es nötig ist. Wenn Sie sagen, unser Land sei wie
alle anderen Länder auch, wird mir klar, daß es gewisse Dinge gibt, die
Sie unbedingt verstehen müssen.«
Wallander nahm einen Schluck von dem lauwarmen Tee. Er versuchte, in der
Dunkelheit etwas zu erkennen. Er glaubte aus den Augenwinkeln einen
schwachen Lichtstreifen sehen zu können. Möglicherweise eine Tür, die
nicht ganz geschlos sen war.
Der Fahrer wärmte sich die Hände an seiner Teetasse. Seine Augen waren
geschlossen, und Wallander verstand, daß er sich ' nicht an dem Gespräch
beteiligen würde.
»Wer sind Sie?« fragte er. »Lassen Sie mich wenigstens so viel wissen.«
»Wir sind Letten«, antwortete Upitis. »Wir sind zufällig während einer
besonders unglücklichen Epoche in diesem gemarterten Land geboren
worden, unsere Wege haben sich gekreuzt, und wir haben begriffen, daß
wir eine gemeinsame Aufgabe haben, der wir uns nicht entziehen dürfen.«
»Major Liepa ...?« begann Wallander, ließ die Frage dann aber im Raum
schweben.
»Lassen Sie mich von vorne anfangen«, sagte Upitis. »Sie müssen
verstehen, daß unser Land sich am Rande eines endgültigen Zusammenbruchs
befindet. Wie in den beiden anderen baltischen Staaten und den anderen
Ländern, die von der Sowjetunion bisher wie Kolonien beherrscht wurden,
versuchen die Menschen hier, jene Freiheit wiederzuerobern, die ihnen
nach dem Zweiten Weltkrieg genommen wurde. Aber die Freiheit wird im
Chaos geboren, Herr Wallander, und in den Schatten lauern Ungeheuer mit
grausamen Absichten. Es wäre ein katastrophaler Irrtum zu glauben, man
könne einfach für oder gegen die Freiheit sein. Die Freiheit hat viele
Gesichter.«
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