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Angela Grünert:
Der längste Weg heißt Frieden

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Auf dem langen Weg zum Frieden, über die Stationen der Verhandlungen in Washington, Madrid, Oslo, Tunis und Kairo, war der 20. Januar 1996 ein besonderes Datum. An diesem Tag wurde in Palästina zum erstenmal gewählt – ein Tag, den sich viele Palästinenser lange ersehnt hatten und feierlich begingen, den andere wiederum enttäuscht boykottierten, weil sie die Voraussetzungen zur Bildung eines zukünftigen Staates nicht zufrieden stellten.

Ich war ein Vierteljahr zuvor, im Monat der Unterzeichnung des Interimabkommens und des Inkrafttretens der palästinensischen Selbstverwaltung in die Westbank gekommen und arbeitete für eine Frauenorganisation, die unter anderem die Kandidatinnen in ihrem Wahlkampf für die ersten Parlamentswahlen unterstützte. Unter den 654 Kandidaten stellten sich achtundzwanzig Frauen zur Wahl. Mein Aufgabengebiet lag im Public-Relations-Bereich, wir organisierten Podiumsdiskussionen, Pressekonferenzen, Demonstrationen und begleiteten mit internationalen Wahlbeobachtern und Journalisten die Wahlkampagnen in den Städten, Dörfern und Flüchtlingslagern.

Mit dieser Aufgabe hatte ich begonnen, die Botschaften der Politikerinnen der Öffentlichkeit zu vermitteln, eine Aufgabe, bei der es auch für mich viel zu lernen gab; zum Beispiel, dass trotz des Verbots offizieller Organisationen auch unter der Besatzung ein palästinensisches Verwaltungssystem, eine an traditionellen und religiösen Institutionen orientierte Ordnung existierte. Ich war von dem diplomatischen Geschick der Frauen, ihrer Überzeugungskraft und dem Mut beeindruckt, mit dem sie sich innerhalb dieser Ordnung bis an die äußersten Grenzen heranwagten, um den historischen Moment für sich zu nutzen, festgefügte Strukturen zu verändern und neue Positionen für sich einzufordern. In der Begegnung mit den Menschen, um deren Stimmen sie warben, wurde mir bewusst, was für eine verantwortungsvolle Aufgabe die Frauen sich vorgenommen hatten, welch hohe Erwartungen an sie gestellt wurden, wie dringlich ihren Bedürfnissen begegnet werden musste, wie existentiell verletzbar dieses Vertrauen war und wie instabil das Autoritätsgefüge in einer in einem derart gewaltigen Umbruch begriffenen Gesellschaft! Fünf der Frauen gewannen das Vertrauen ihres Volkes und eroberten fünfeinhalb Prozent der Macht innerhalb des achtundachtzigsitzigen Autonomierats, dem ersten palästinensischen Parlament der Interimsphase. Zwei von ihnen wurden außerdem zu Ministerinnen ernannt.

In der euphorischen Atmosphäre unmittelbar nach den Wahlen, in der Freude über die ersten Schritte auf dem Weg zum eigenen Staat, begleitet von großen Erwartungen an Palästinas junge Demokratie, entstand die Idee für dieses Buch. Ich holte das Einverständnis der fünf Politikerinnen ein, ihre Arbeit im ersten Jahr des Parlaments zu begleiten, um aus diesen persönlichen Perspektiven Palästinas Weg in den Staat, den Aufbau von Institutionen, die Demokratisierungsprozesse und die Entwicklung der Friedensverhandlungen zu dokumentieren. Doch die Euphorie währte nicht lange, und ich musste schon bald einsehen, dass mein ursprüngliches Konzept nur ein sehr deprimierendes Buch hervorgebracht hätte. Jasir ’Arafats absoluter Machtanspruch billigte dem Autonomierat kaum demokratische Bewegungsfreiheit zu, und der Friedensprozess war spätestens seit den israelischen Neuwahlen und dem Wahlsieg Benjamin Netanjahus zum Stillstand gekommen. Die erwartungsvolle Haltung der Bevölkerung war angesichts ihrer sich verschlechternden Lebensbedingungen in maßlose Enttäuschung und Resignation umgeschlagen, und für die Parlamentarierinnen war es eine schmerzhafte Erfahrung, so schnell an die Grenzen ihrer politischen Möglichkeiten gelangt zu sein.

Da die Gegenwart durch politische Stagnation gekennzeichnet war, begann ich mich intensiver der Vergangenheit der einzelnen Politikerinnen und der Geschichte Palästinas zuzuwenden. Gleichzeitig begleitete ich jede der Frauen über zwei bis drei Monate: zunächst in ihrem Arbeitsalltag im Parlament, in den Ausschusssitzungen, in den Ministerien, Wahlbezirkbüros und politischen, sozialen und kulturellen Institutionen, in denen sie sich engagieren. Als das Vertrauen gewachsen war, nahm ich auch an ihrem privaten Leben teil. Schon bald erkannte ich, dass der Kompromiss, den ich gewählt hatte – stärker biographisch statt rein gegenwartsbezogen zu arbeiten und in diesem Zusammenhang Historie auf Gegenwart zu beziehen –, der Schlüssel war, um gegenwärtige Prozesse sowohl auf gesellschaftlicher wie auf politischer Ebene einzuordnen und begreifen zu können. Diese Erkenntnis nutzte ich, um die sehr unterschiedlichen Biographien der Frauen jeweils mit einem Abschnitt der Geschichte Palästinas zu verknüpfen.

So steht einleitend das Porträt von Rauwia Schauwa, die aus einer einflussreichen, wohlhabenden, allein im Ghazastreifen sechstausend Mitglieder zählenden Familie stammt, für den historischen Hintergrund des Nahostkonflikts. Die Biographie der Journalistin und Begründerin einer oppositionellen Fraktion im Parlament konzentriert sich auf die Familiengeschichte der Schauwas, die am weitesten in die Vergangenheit zurückreicht. Sie beschreibt den Einfluss der Großfamilie mit feudaler Vergangenheit auf die lokale Politik unter den wechselnden Fremdherrschaften.

Dschamila Saidam, die sechs Monate alt war, als ihre Familie aus ’Aqer (heute Qiriat ’Aqron in Israel) in den Ghazastreifen vertrieben wurde, steht für das Schicksal der Flüchtlinge. Ihre und die Geschichte ihrer Eltern sollen Zeugnis ablegen über die Ursachen und Umstände ihrer Flucht, ihre zu Beginn gehegte Hoffnung auf Rückkehr, das allmähliche Begreifen und Sicheinrichten in der Realität. Dschamila Saidams politisches Engagement für die Flüchtlinge in der Diaspora, in den Lagern innerhalb und außerhalb Palästinas und auf politischer Ebene im Flüchtlingsausschuss soll die Problematik des bis heute ungeklärten Status und der ungewissen Zukunft der rund drei Millionen palästinensischen Flüchtlinge in aller Welt aufzeigen.

Im Mittelpunkt des Porträts über Intisar al-Wazir steht die Geschichte der al-Fatah, deren Entwicklung die Witwe Khalil al-Wazirs (Abu Dschihad), des 1988 vom israelischen Geheimdienst ermordeten Stellvertreters ’Arafats, von der Untergrundorganisation über die führende nationale Bewegung in der PLO aus dem Exil bis hin zur offiziellen Regierungspartei aktiv begleitet hat. Durch den Einblick in ihre Arbeit als Sozialministerin sollen der Aufbau staatlicher Institutionen, innenpolitische und gesellschaftliche Prozesse und vor allem die sozialpolitischen Probleme innerhalb der Autonomiegebiete beleuchtet werden.

Dalal Salameh ist mit vierunddreißig Jahren das jüngste Parlamentsmitglied und präsentiert die zweite Generation der Flüchtlinge von 1948. Ihre Biographie beschreibt das Leben, das Elend, die Motivation, die Träume und die Enttäuschung der Intifada-Jugend. Es erzählt über den Alltag in Balata, dem größten Flüchtlingslager der Westbank, wo die al-Fatah-Politikerin und Frauenaktivistin geboren und aufgewachsen ist und wo sie bis heute lebt und arbeitet.

Das Porträt von Hanan ’Aschrawi, Sprecherin der palästinensischen Delegation in den Friedensverhandlungen und heutige Hochschulministerin, ist eine Bestandsaufnahme des Ursprungs, der Hürden, der gegenwärtigen Realität und Perspektiven des Friedensprozesses sowie der begrenzten Möglichkeiten der Autonomie.

Jedes Porträt kann einzeln für sich gelesen werden. Der rote Faden sind die Historie, die Ereignisse während der Entstehung des Buches und das politische Engagement der Frauen in ihrer Rolle als Parlamentarierinnen. Zweieinhalb Jahre sind mit der Umsetzung dieser Idee vergangen; was ich in diesen dreißig Monaten »Intensivkurs« gelernt habe, verdanke ich in erster Linie meinen »Professorinnen« Rauwia Schauwa, Dschamila Saidam, Intisar al-Wazir, Dalal Salameh und Hanan ’Aschrawi, ihrer Bereitschaft, sich trotz dichtgedrängter Terminkalender auf mich und dieses Projekt einzulassen, mich an ihrem privaten und beruflichen Alltag teilhaben zu lassen, ihrer Geduld für meine Befremdung und vielen Fragen, ihrer Bereitschaft, über Gegenwart und Vergangenheit zu reflektieren, viele schwierige Phasen ihres Lebens oftmals schmerzhaft noch einmal zu erinnern, damit sie für die Aufzeichnung ihrer Biographien nachvollziehbar werden. Ihre Offenheit und ihr Engagement haben dieses Buch so reichhaltig und unmittelbar gestaltet. Neben »meinen Parlamentarierinnen« haben mich auch ihre Ehepartner und Kinder, Verwandte, Freunde, Kollegen und Mitarbeiter großzügig unterstützt, mir bereitwillig die Türen zu Büros, Wohnungen und Herzen geöffnet und alles gegeben, damit mir ihre Liebe zu ihrem Land, ihr drängendes Bedürfnis nach politischer Betätigung und ihre Sehnsucht nach einem »ganz normalen« Leben in Frieden und Würde begreifbar wurde.

Viele Menschen haben dazu beigetragen, daß dieses Buch geschrieben wurde. Die vielschichtige Unterstützung meiner Freunde und Verwandten in Deutschland und Frankreich bildete die Basis für diese Arbeit. Sie haben mich trotz Tausenden von Kilometern nie spüren lassen, dass es eine Distanz zwischen uns gab. Diese Verbundenheit war mir besonders in Krisenzeiten ein sicherer Anker, der mir geholfen hat, die oft nicht einfache Rolle der Fremden und Vermittlerin auszufüllen. Besonders verbunden fühle ich mich den Menschen, die mir vor Ort zur Seite standen, denjenigen, die ganz unmittelbar all die Höhen und Tiefen des Projekts begleitet und überbrückt haben, die mich mit ihren Kenntnissen, Fähigkeiten und ihrer menschlichen Wärme unterstützt und in diesen intensiven Arbeitsphasen selbst so wenig von mir als Freundin verlangt haben. Darüber hinaus gilt mein tiefer Dank allen, die an dieses Projekt glauben und die mit ihrer Unterstützung und ihrem Einsatz zu seinem Gelingen beigetragen haben.

Nun hoffe ich, von all diesen großzügigen Geschenken weitergeben zu dürfen. Ich habe das Vertrauen der Politikerinnen und meiner Unterstützer immer als einen Kredit betrachtet, eine Leihgabe für meinen selbstgewählten Auftrag, den ich nun mit den letzten Überarbeitungen an diesem Buch abschließe: die Geschichte Palästinas, seine bewegte Vergangenheit, seine spannungsgeladene Gegenwart und seine ungewisse Zukunft aus der Perspektive von fünf sehr verschiedenen, aber gleichermaßen voll und ganz ihrem Land verschriebenen Frauen darzustellen; durch diesen persönlichen Zugang wird ihr Leben niemandem mehr wie ein abstraktes Phänomen eines fremden Volkes vorkommen können. Der Konflikt im Nahen Osten ist eng an unsere eigene Geschichte geknüpft, und er ist weit komplexer, als wir das aus unserer Distanz wahrhaben wollen – auch deswegen habe ich dieses Buch geschrieben.

Jerusalem/Berlin, im Mai 1998
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