Ingeborg Hecht:
Als unsichtbare Mauern wuchsen.
Gelesen von Ingeborg Hecht. Vorwort von Ralph Giordano
1 Audio-CD
Dölling und Galitz Verlag 2004
Euro 12,00
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Eine deutsche Familie unter den Nürnberger Rassegesetzen:
Als unsichtbare Mauern wuchsen
Andrea Livnat
Als Ingeborg Hechts Erinnerungen in den 80er Jahren
erschienen, war von der normierten Rechtlosigkeit der sog.
"privilegierten Mischlinge" noch wenig die Rede. Seitdem hat die 1921
geborene Autorin unermüdlich vor hauptsächlich jungem Publikum aus ihrem
Buch vorgetragen. Dieses "Werk erschütternder Glaubwürdigkeit", wie
Ralph Giordano in seinem Vorwort sagt, ist nun als Hörbuch erhältlich,
gelesen von der Autorin selbst.
Ingeborg Hecht hat das 'Dritte Reich' als sog.
"Mischling 1. Grades" erlebt. Sie erzählt die Geschichte einer deutschen
Familie mit zwei Kindern, mit einem jüdischen Vater und einer "arischen"
Mutter. Sie beschreibt schlicht und sachlich die "langsam
zugeschraubte(n) Würgeisen der Rassengesetzgebung um die Kehle der
Bedrohten, das hat mir, der ich in einer ähnlichen Situation in
derselben Stadt, in Hamburg, war," so Ralph Giordano, "auf vielen Seiten
der Lektüre schier den Atem geraubt".
Ingeborg Hechts Eltern ließen sich 1933 scheiden, was
nichts mit dem Nationalsozialismus zu tun hatte. Sie trennten sich im
Guten und blieben vorerst auch im gleichen Haus wohnen. Gleichzeitig
setzten die Repressionen ein. Ingeborg Hecht beschreibt die Stationen
der Ausgrenzung und des sozialen Abstiegs der Familie: der Boykott
jüdischer Geschäfte an ihrem 12. Geburtstag, die Gesetze gegen den
Berufsstand, die in Kraft traten bevor der Vater seine Anwaltskanzlei
einrichten konnte, das Haus musste versteigert werden und die Familie
umziehen.
Sie erzählt aus ihrem Alltag, von den Geländespielen mit
dem jüdischen Wanderbund, dem zunehmendem Druck in der Schule, von ihrer
Lehrerin Frau Flügge, die sich mutig und engagiert einsetze, nicht nur
für die jüdischen Kinder der Schule, sondern auch des Öfteren für deren
Eltern. Nachdem sie die Schule beendet hatte, wollte Ingeborg
Journalistin werden, ein entsprechender Ausbildungsplatz blieb ihr als
'Mischling' verwehrt. Sie begann eine kaufmännische Lehre, die der Vater
gefunden hat. Weitere Verbote und Erlasse sorgten für eine komplette
Isolierung der jüdischen Bevölkerung.
Trotzdem ging Ingeborg an einem Nachmittag zum Tanzen,
wo sie Hans kennen lernte. Erst ein Jahr später wurden die beiden jedoch
ein Paar, zwei Jahre später kam die Tochter zur Welt, Hans war zu dieser
Zeit bereits Soldat.
Am 11. November 1938 hatte Ingeborgs Bruder Wolfgang
Geburtstag, die Familie wartete vergeblich auf den Vater. Er war aus der
Straßenbahn geholt worden und kehrte erst im Dezember aus dem KZ
Sachsenhausen zurück, "er hatte die Kälte in seinem Körper gespeichert".
Kurz vor Ostern 1940 kam das Unvermeidbare, die Mutter
wurde wegen Rassenschande mit dem geschiedenem Mann verhaftet, ihr wurde
ein Geständnis abgepresst, das sie später widerrief, und sie musste sich
schließlich schriftlich verpflichten, dass sie den Vater nie wieder
sehen würde. Die Mutter sah sich bis an ihr Lebensende 1979 schuld am
Schicksal des Vaters und hatte immer wieder beteuert, sie hätte sich nie
scheiden lassen, wenn sie geahnt hätte, was auf ihn zukommen würde.
Als Ingeborgs Tochter Barbara im August 1941 zur Welt
kam, war Hans an der Ostfront. Er sah seine kleine Tochter bei einem
kurzen Heimaturlaub, aber fiel kurze Zeit später an der Front.
Im Juli 1943 mussten die Mutter, Ingeborg und ihr
kleines Kind während eines Fliegeralarms den Luftschutzkeller verlassen,
um in einem anderen Haus unterzukommen. Das Wohnhaus wurde nur eine
halbe Stunde später durch eine Bombe zerstört. Die beiden kamen bei
ihrer ehemaligen Briefträgerin im Keller unter, die vorschlug, auch den
Vater herzuholen. Nach einer gemeinsamen Nacht, in der die ganze Familie
versammelt war, fuhr Ingeborg mit Kind und Mutter ins Breisgau, wo es
sicherer erschien. Der Vater blieb in Hamburg, er weigerte sich, falsche
Papiere zu nehmen und die Stadt zu verlassen, da er Angst vor der
Sippenhaft hatte. Auch der Bruder Wolfgang blieb in Hamburg. Sie und ihr
Bruder, so Ingeborg Hecht, müssen damit leben, dass sie den Vater nicht
dazu gezwungen haben, die Stadt zu verlassen.
Im Januar 1944 hatte der Vater seine berüchtigte
"Aufforderung" erhalten und wurde nach Theresienstadt deportiert. Die
Familie schickte ihm Päckchen, wenn auch nur mit armseliger Ausstattung
und versuchte anhand von Codewörtern in den vorgedruckten Antwortkarten
zu erkennen, wie es um den Vater stand.
Im Februar 1945 musste sich Ingeborg Hecht einer
Operation unterziehen. Während sie sich zu Hause in Staufen erholte, sie
hatte viel zu früh entlassen werden müssen, kam die Gestapo, die den Weg
in die bescheidene Wohnung der Hechts schließlich gefunden hatte. Wegen
ihres Gesundheitszustandes zog der Mann wieder an, drohte Ingeborg
jedoch an, sie habe sich in drei Wochen in Lörrach zu melden.
Doch dazu kam es nicht mehr, denn "am 23. April 1945,
dem 45. Geburtstag der Mutter kamen die Franzosen nach Staufen". Der
Krieg war zu Ende, Mutter und Tochter Hecht wollten nicht zurück nach
Hamburg und blieben im Breisgau. Der Bruder Wolfgang blieb noch einige
Zeit in Hamburg, konnte jedoch die Erinnerung nicht ertragen und
wanderte nach Mittelamerika aus.
Vom Vater gab es lange keine Spur. Erst drei Jahre nach
Kriegsende erhielt die Familie von einem Suchdienst die Nachricht, dass
Dr. Felix Hecht am 28.9.44 nach Auschwitz deportiert wurde, mit dem
Zusatz: "Personen, die älter sind als 50 Jahre, können als verstorben
angesehen werden".
Nach dem Krieg fand sich die Familie im Dschungel der
Wiedergutmachungsgesetzes wieder, waren sie doch "nur mittelbar
geschädigt". Erst 1991 bekam Ingeborg Hecht eine kleine Rente
zugesprochen. Sie litt 30 Jahre lang an einer Angstneurose und konnte
das Haus nicht verlassen. Erst das Schreiben an diesem Buch hat sie
gesund werden lassen.
"Wir waren rechtlos gewesen, haben nichts gescheites
lernen, keine Existenz aufbauen können und nicht heiraten dürfen. Wir
haben die Angst mit denen geteilt, die die Verfolgung nicht überlebten
und wir haben die Scham erleiden müssen, es besser gehabt zu haben als
der Vater, die Verwandten, die Freunde, die Kameraden. Wir haben das
nicht unversehrt überstanden."
hagalil.com
11-05-04 |