Während der vergangenen Jahre
hatte ich schon den Eindruck, dass die Wörter "Benes-Dekrete"
(und Temelin) nicht nur von den Lippen unserer staatstragenden
Politiker, aus dem Fernsehen und Radio, sondern auch aus dem
Wasserhahn kommen. Ich war schon so weit und schaltete völlig
ab, wenn diese Worte irgendwo erklangen. Und nun - reichlich
spät - kommt ein Buch, das über dieses in Österreich Jahrzehnte
vernachlässigte Thema aufklärt. In diesem wichtigen Sammelband
werden - im Gegensatz zu den meisten Darstellungen in Österreich
- Fakten aufgezeigt und es kommen beide Seiten zu Wort.
Oliver Rathkolb geht in seinem Beitrag "Verdrängung und
Instrumentalisierung/ Die Vertreibung der Sudetendeutschen und
ihre verspätete Rezeption in Österreich" auf das österreichische
Spezifikum ein. Die Opfer-Täter Umkehr und/oder die
Gleichsetzung von Opfern und Tätern wird in Österreich nicht nur
von der FPÖ betrieben, sondern ist auch Teil des
Regierungsprogramms der schwarz-blauen Regierung: Im Kapitel
"Starke Demokratie" lautet Punkt "12. Wiedergutmachung für
Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene und Vertriebene. Die
Bundesregierung wird um sachgerechte Lösungen in den Fragen
aller im Zuge des Zweiten Weltkrieges zur Zwangsarbeit
gezwungenen Personen, der österreichischen Kriegsgefangenen
sowie der in der Folge der Benesch (sic! Benes)-Dekrete und
Avnoj Bestimmungen nach Österreich vertriebenen
deutschsprachigen Bevölkerung bemüht sein."
Bundeskanzler Schüssel "unterstrich im April 2002 die
Forderung nach Aufhebung der Benes-Dekrete, "riet" aber auch zu
einem freiwilligen "Entschädigungsfonds" ähnlich wie bei der
Zwangsarbeiterlösung in Österreich im Jahr 2000. Unbemerkt von
den sonst strengen Budgeteinsparungen wurde überdies die
Sudetendeutsche Landsmannschaft, die inzwischen wesentlich
radikaler als deren deutsche Schwesternorganisation
argumentierte, durch die Finanzierung einer Vertriebenenstiftung
deutlich gestärkt. Auf Initiative der FPÖ wurden ihr von den
österreichischen Bundesländern finanzielle Mittel in der Höhe
von 3,3 Millionen Euro (auf Betreiben des Kärntner
FPÖ-Landeshauptmannes Jörg Haider) und vom Bund 4 Millionen Euro
zur Verfügung gestellt."
Dieser Beitrag scheint mir der wichtigste in diesem Buch zu
sein, weil er genau aufzeigt, was in Österreich getan und
unterlassen wurde. Es wäre vorteilhaft gewesen ein Kapitel über
die Sudetendeutsche Landsmannschaft zu bringen. Wer sich dafür
interessiert, der sollte das ausgezeichnete Buch von Samuel
Salzborn "Heimatrecht und Volkstumskampf/Außenpolitische
Konzepte der Vertriebenenverbände und ihre praktische
Umsetzung", Offizin Verlag Hannover, 2001, ISBN 3-930345-28-5
lesen in dem festgehalten wird, "dass das reklamierte
"Sudetenland" zu keinem Zeitpunkt deutsch war, außer in den fast
sieben Jahren der faktischen Annexion (die einerseits of dem
völkerrechtlich äußerst umstrittenen Münchner Abkommen von 1938,
andererseits auf der Zerschlagung der so genannten
Rest-Tschechei 1939 beruhte) während des Nationalsozialismus."
Barbara Coudenhove-Kalergi betont, dass "es über ein und
dieselbe Sache mindestens zwei verschiedene Narrative gibt". Nur
können diese Narrativen nicht die Arbeit von Historikern
ersetzen, die feststellen müssen, wie sich die Geschichte
wirklich abgespielt hat. Die kommentarlose und kritiklose
Wiedergabe einzelner Narrative wirkt kontraproduktiv, zum
Beispiel das "Prager Tagebuch" von Elisabeth Marnegg, die
Tochter des letzten österreichischen Botschafters der Ersten
Republik. Sie schildert eindrucksvoll, wie ihr Vater mit einigen
Österreichern, die später Diplomaten der Zweiten Republik werden
sollten sowie anderen Gesinnungsgenossen besprach, "was zu
geschehen habe, wenn der Nazi-Spuk aufhörte und Österreich neu
erstünde. Die österreichische Fahne stand, versteckt und
zusammengerollt, hinter dem Bücherkasten."
Doch dann schildert sie die Verfolgung der deutschsprachigen
Bürger nach der Befreiung Prags und behauptet: "Es stand
Todesstrafe darauf, Menschen deutscher Muttersprache zu
verstecken". Spätestens hier hätte eine Fußnote die Leser
aufklären müssen, ob diese Behauptung stimmt oder nicht. Weiters
schreibt sie, "im Prager Stadion wurden viele lebendig
verbrannt, nachdem man sie mit Benzin übergoss". Auch das hätte
eine Fußnote verdient, die uns aufklärt, was wirklich geschehen
ist. Hier darf man keine zwei Narrativen zulassen. Entweder gab
es diese Todesstrafe oder nicht, entweder wurden Menschen
lebendig verbrannt oder nicht.
Der deutsche Historiker Volker Zimmermann beschreibt das
sudetendeutsch-tschechische Verhältnis in der Ersten
tschechoslowakischen Republik und im NS-Staat, der tschechische
Historiker Vaclav Kural beschränkt sich auf das Verhältnis
Deutsche und Tschechen im "Protektorat". Sowohl Kural wie auch
Vaclav Havel weisen darauf hin, dass die deutsche
Besatzungspolitk zum Ziel hatte, die Tschechen in Ruhe für das
Reich arbeiten zu lassen. Die meisten leisteten keinen
Widerstand und entdeckten diesen erst in den Tagen der
Befreiung. Hier dürfte auch die psychologische Wurzel der
Ausschreitungen gegen die deutschsprachigen Bürger liegen.
Der in New York lehrende Historiker István Deák beleuchtet
ein Kapitel, das in Österreich weniger bekannt ist, nämlich die
Vertreibung der Ungarn aus der Slowakei. Auch hier kann das
gleiche Phänomen der Kompensation festgestellt werden. Der
slowakische Staat ging genauso wie Ungarn (hier allerdings erst
unter deutscher Besetzung) mit seinen jüdischen Bürgern um,
deren überwiegende Mehrheit zur physischen Vernichtung
freigegeben wurde. Nach dem Krieg wurden aber lediglich die
Ungarn kollektiv als "Faschisten" gebrandmarkt. Die Ironie der
Geschichte, unter den Gründern der tschechoslowakischen KP und
überhaupt unter den Linken der Tschechoslowakei waren die Ungarn
überproportional vertreten.
Anne Bazin-Begley weist in ihrem Beitrag über die
"Vertreibung der Sudetendeutschen als politisches Thema in der
EU" darauf hin, dass die "Sudetendeutsche Landsmannschaft
besonders was das Heimat- und Rückkehrrecht betrifft Parallelen
zur palästinensischen Frage in den siebziger Jahren" herstellt,
"die in der UNO ausgiebig diskutiert worden war." Tatsache ist,
dass im von Österreich hoch subventionierten Wiener "Haus der
Heimat" eine gemeinsame Veranstaltung von rechtsextremen
Österreichern und Palästinensern unter dem Titel "Von Benes zu
Sharon" stattgefunden hat. Solche Veranstaltungen tragen nicht
dazu bei, die Bedingungen eines Dialogs zu schaffen, der allein
im Sinne der Europäische Gemeinschaft wäre. Versuche die
Ereignisse von 1945 im Namen einer Union, die zu dieser Zeit
noch nicht existierte zu beurteilen, können nur scheitern.
Wer sich allerdings mit der FPÖ in eine Koalition begibt,
wird trotz aller gegenteiligen beim Fenster hinausgesprochenen
Erklärungen, auch in dieser Frage in Geiselhaft genommen.
Das vorliegende Buch füllt eine Lücke, denn das Thema wurde
bislang den rechtsextremen und nazoiden Kräften in Österreich
überlassen.