Konrad H. Jarausch, Martin Sabrow (Hg.):
Verletztes Gedächtnis Erinnerungskultur und Zeitgeschichte im
Konflikt,
Campus Verlag 2002
Euro 29,90
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Erinnerungskultur und
Zeitgeschichte im Konflikt:
Der Zeitzeuge als natürlicher Feind des
Historikers?Von Andrea Livnat
Die politischen Debatten des
vergangenen Jahres waren geprägt von der Frage nach einer angemessenen
Form der Erinnerung an die Zeit des Nationalsozialismus. Nach einer
Phase der Verdrängung sei nun eine Zeit des Übermaßes an Erinnerung
eingetreten, hieß es aus verschiedenen Ecken. In den oft unsäglichen
Debatten in Feuilletons und Fernsehdiskussionen mag sich manch einer die
klärenden Worte eines Historikers herbeigesehnt haben. Tatsächlich
verlangt die besondere Brisanz der deutschen Erinnerung "alternative
Formen der Bewältigung einer noch nicht zur Ruhe gekommenen
Vergangenheit", wie es im Vorwort des von Konrad H. Jarausch und Martin
Sabrow herausgegebenen Bandes "Verletztes Gedächtnis" heißt.
Der Band enthält einige ausgewählte
Beiträge und Kommentare einer Tagung über die "Historisierung der
Gegenwart", die im März 2001 in Potsdam stattfand. In verschiedenen
Schwerpunkten wird die Frage nach dem Verhältnis von Zeitgeschichte und
Erinnerung untersucht. Gleich zu Beginn stellt Konrad H. Jarausch in
seinem Beitrag "Zeitgeschichte und Erinnerung" die Frage nach
"Deutungskonkurrenz oder Interdependenz". Dabei gehe es hinter dem "gern
zitierte(n) Bonmot des "Zeitzeugen als (natürlichem) Feind des
Historikers"" um einen weit "tieferen Konflikt zwischen dem
moralisierenden Duktus der Erinnerung und dem rationalen
Erklärungsanspruch der Forschung". Einer prägnanten Einführung in die
Begrifflichkeiten und Definitionen der Erinnerung und einer Typologie
von drei Ebenen der Erinnerung, im Bereich des kommunikativen,
kollektiven und kulturellen Gedächtnisses, gibt Jarausch eine
disziplingeschichtliche Analyse einiger Entwicklungsprobleme der
Zeitgeschichte wieder.
Trotz zahlreicher Einwände konnte
sich die Zeitgeschichte in der Bundesrepublik erfolgreich etablieren,
nicht zuletzt dadurch, "da sie der Politik Hilfe bei der Bewältigung der
NS-Vergangenheit versprach". Mehr noch, die Forschungsergebnisse der
Zeitgeschichte haben mittlerweile zu einer Disziplinierung des
kollektiven Gedächtnisses beigetragen. Die Sichtweise des
Nationalsozialismus als "Betriebsunfall" konnte verdrängt werden,
strukturelle Untersuchungen bis hin zur Alltagsgeschichte haben
schließlich auch die Frage nach der Verantwortung des Einzelnen als
Täter ins Zentrum der Forschung gerückt.
Die Verknüpfung von Zeitgeschichte
und Politik bleibt, Jarausch nennt als negatives Beispiel der
institutionellen Abhängigkeit der Disziplin von der Politik die
Kontroversen um das Hannah-Arendt-Institut in Dresden. Dazu kommt ein
ständiger Widerspruch für den Forscher zwischen "Engagement und
Distanzierung", wie Jarausch schreibt: "Einerseits lebt die
Beschäftigung mit der jüngsten Vergangenheit von ihrem ethischen Impuls
zur Enthüllung von Geheimnissen der Macht und zur Aufklärung über
Wirkungszusammenhänge vor allem unter Diktaturen, der auf eine wertende
Stellungnahme hinzielt." Andererseits aber muss die Objektivität so weit
als möglich gewahrt sein, soweit das überhaupt möglich ist, gefordert
ist also ein distanziertes, nicht emotionales Herangehen. Daran schließt
ein weiteres Problem der Zeitgeschichte, nämlich der Konflikt zwischen
eben genau diesem objektiven Arbeiten und der subjektiven Erfahrung des
Historikers, der selbst auch Zeitzeuge ist, der innerhalb eines
bestimmten kollektiven Gedächtnisses handelt, denkt und forscht.
Erinnerung und Zeitgeschichte müssen
mit ihren alternativen Zugängen miteinander kollidieren, denn die
Forschung der Historiker rührt an Fragen der Legitimation, indem sie
Mythen und Legenden der Erinnerung zerbricht. Jarausch spricht hier an,
was Aleida Assmann in ihren Studien zum kollektiven Gedächtnis
ausführlich gezeigt hat. Die Geschichtsschreibung bietet quasi ein
Arsenal an potentiellen Erinnerungen für die Zukunft. Legitimation und
Delegitimation liegen eng aneinander. Der Prozess, bis sich eine neue
Anschauung durchgesetzt hat und schließlich auch ins kollektive
Gedächtnis der Gesellschaft übergegangen ist, ist kompliziert und lang.
Jarausch nennt als Beispiel die Fischer-Kontroverse um die deutsche
Schuld am Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Erwähnt sei auch die
Instrumentalisierung der Forschungsarbeiten Daniel Goldhagens in der
öffentlichen Debatte oder aber, um eine besonders scharfe
Auseinandersetzung anzubringen, der Streit um die sog. "Neuen
Historikern" in Israel.
Jarausch zieht das Fazit, dass es
dringend geboten sei, dass sich Zeithistoriker in die aktuellen
Erinnerungsdiskussionen einschalten. Ein verantwortlicher Umgang mit
Gedenken und Erinnern benötige "in der Gesellschaft auch eine stärkere
Rückbindung an die zeithistorische Forschung, um den Prozeß der
Erinnerung wie seine gesellschaftlichen Funktionen zu problematisieren".
Mehr noch, Zeithistoriker müssen "bewußt eine Historisierung
vorantreiben, die auf persönliche Erfahrungen eingeht und sie mit
wissenschaftlichen Erkenntnissen in ein komplexeres Bild der
Vergangenheit integriert."
Von der Verantwortung der Historiker in öffentlichen
Diskursen spricht auch Hans Günter Hockerts in seinem Beitrag "Zugänge
zur Zeitgeschichte: Primärerfahrung, Erinnerungskultur,
Geschichtswissenschaft". Eingangs weist er darauf hin, dass die
Fachwissenschaft immer nur kleine Teile der Öffentlichkeit erreichen
kann und stellt die unterschiedlichen Zugangsweisen zur Zeitgeschichte
dar. Bei der Thematisierung des Gegensatzes von Zeitzeuge und
Zeithistoriker merkt Hockerts, Professor für Neuere Geschichte an der
Universität München, an: "Es gibt eine Schrecksekunde, die wohl jeder
kennt, der zeithistorische Vorlesungen hört oder hält: Aus dem kreis der
Seniorenstudenten erhebt sich jemand und sagt: "Das war aber ganz
anders. Ich weiß das, denn ich habe es selber erlebt." In solchen
Momenten macht sich abermals eine Spannung bemerkbar, diesmal zwischen
Zeitzeugenschaft und Zeithistorie." Tatsächlich wird jeder, der einmal
eine Vorlesung von Hans Günter Hockerts besucht hat, diese Situation
einmal selbst miterlebt haben.
Die Frage, was die Zeitgeschichte
von anderen Zugängen zur Vergangenheit unterscheidet, beantwortet
Hockerts zunächst in einem prägnanten Satz mit einem grundsätzlichem
Zweifel an der Geltung der Aussagen von Quellen. Historiker beziehen die
Umstände der Aussagen mit ein. Ein Beispiel, wo dies dringend
erforderliche gewesen wäre, ist für Hockerts die Fernsehdokumentation
von Guido Knopp "Hitlers Helfer", die emotionalisierte, aber die Bilder
nicht dokumentierte. Hockerts kommt dabei zu dem Schluss, dass Fernsehen
und Kino die Wissenschaft als kritisches Korrektiv nur noch wichtiger
macht. In den Printmedien macht sich seit den 80er Jahren eine
interessante Tendenz "in Gestalt einer Zwischenschicht von
'Historiker-Journalisten'" bemerkbar, also Historiker vom Fach, die als
Journalisten arbeiten und dabei Feuilletons und Rezensionswesen füllen.
Sie üben eine vermittelnde Funktion zwischen der Fachwissenschaft und
der Öffentlichkeit aus, aber steuern und lenken dadurch auch die
Kontroversen. Als Konsequenz nennt Hockerts beispielsweise die
Ausmusterung der sozialwissenschaftlichen Denkschule, andererseits
wurden biographische Darstellung, politische Geschichte, aber auch
Alltags- und Kulturgeschichte in den Mittelpunkt gerückt.
Hockerts Fazit ist, dass
Zeithistorikern eine besondere Bedeutung, aber auch eine besondere
Verantwortung zukommt: "Die Zeithistoriker haben laut zu widersprechen,
wenn sie im öffentlichen Gebrauch der Geschichte Unverantwortliches
wahrnehmen (...). Umgekehrt bedürfen die Ergebnisse der zeithistorischen
Forschung fast immer der Vermittler und Übersetzer, wenn sie einem
größeren Publikum nahegebracht werden sollen. Insofern sind die
Historiker gut beraten, wenn sie auf solche Experten zugehen und sich
auch am eigenen Schopf fassen, wenn es darum geht, die Standards der
Zusammenarbeit zu verbessern."
In einem zweiten Teil des Bandes
unter der Überschrift "Literarische Vergegenwärtigungen" geht zunächst
Peter Fritzsche "volkstümliche(r) Erinnerung und deutsche(r) Identität
nach dem Zweiten Weltkrieg" anhand der von Walter Kempowski 1993 und
1999 veröffentlichten Dokumentation "Das Echolot" nach. Wolfgang
Hardtwig plädiert schließlich dafür, "daß die Historiker das spezifisch
literarische Projekt zur Aneignung oder Wiederaneignung vergessener oder
vom Vergessen bedrohter Geschichte ernster nehmen, als das bislang
geschehen ist" und stellt entsprechende Überlegungen anhand von fünf
Büchern an, Stefan Heyms "Collin", Christoph Meckels "Suchbild. Über
meinen Vater", Christa Wolfs "Kassandra", Christoph Heins "Der
Tangospieler" und Andrzej Szcsypiorskis "Feuerspiele".
"Wissenschaftliche Zeitzeugenschaft"
ist das Thema von Martin Sabrow, der den Historiker als Zeitzeugen
untersucht, anhand "autobiographische(r) Umbruchsreflexionen deutscher
Fachgelehrter nach 1945 und 1989". Historiker sind im Gegensatz von
Geschichte und Gedächtnis an der Schnittstelle situiert, Zeitgeschichte
und Zeitzeugenschaft fallen personell zusammen. Sabrow stellt daher die
Frage ob Historiker "kraft Amt und Ausbildung tatsächlich die besseren
Zeitzeugen" sind. Seine Ausführungen geben keine positive Antwort, im
Gegenteil. Anhand unterschiedlicher Beispiele verdeutlicht Sabrow den
Umgang der Geschichte des Nationalsozialismus in Autobiographien
deutscher Historiker und findet drei verschiedene Strategien, "nämlich
erstens die teleologische Gegenwartsorientierung der erinnerten
Tatbestände, zweitens ihre Einordnung in eine spannungsbehaftete, oft
antagonistische Inszenierung der autobiographischen Beziehung von Ich
und Umwelt und schließlich ihre authentifizierende Präsentation als
glaubwürdige Erzählung."
Auch Ralph Jessen widmet sich unter
dem Titel "Zeithistoriker im Konfliktfeld der Vergangenheitspolitik" der
Entwicklung der Zeitgeschichtssschreibung in der Bundesrepublik und hält
dabei sechs Spannungszonen fest, darunter die Beziehung zwischen Politik
und Wissenschaft und unscharfe disziplinäre Abgrenzung der
Zeitgeschichte, wobei er drei verschiedene Generationen von
Zeithistorikern ausmacht, die "Weltkriegsgeneration", die
"Flakhelfergeneration" und die "Nachkriegsgeneration".
Der Verarbeitung der Schoah widmen
sich zwei Beiträge, die einerseits die deutsche, andererseits die
jüdische Perspektive beleuchten. "Vom Prozeß in Jerusalem zum Kniefall
in Warschau und darüber hinaus. Proben im Gedächtnistheater in
Deutschland 1960-1975" ist das Thema von Y. Michael Bodemann. Er schlägt
vor, folgende Periodisierung des öffentlichen Diskurses der
Nazi-Verbrechen in Westdeutschland vorzunehmen: "Die erste Periode, der
Schock des Erwachens, ertreckt sich vom Kriegsende bis etwa Anfang 1947;
die zweite Periode des "Beschweigens" von 1947 bis etwa 1960. Die dritte
Periode nun erstreckt sich von 1960 bis zu den späten siebziger Jahren
und die vierte von dort bis zur Wende, um 1990." Die Zeit vor dem
Eichmann-Prozeß charakterisiert Bodemann als Zeit der "negativen
Erinnerung", in der, wie in einem Fotonegativ, nur die Konturen der
Schoah sichtbar wurden, der eigentliche Inhalt, also die Vernichtung an
sich dagegen ausgespart. Er betont in diesem Zusammenhang, dass es zwar
kein totales Schweigen über Hitler und die Verbrechen des
Nationalsozialismus gab, aber auch kein zentrales öffentliches Interesse
und kein nationales Narrativ. Bodemanns These ist, dass es zwischen 1960
und 1975 zu einer radikalen Veränderung im "Gedächtnistheater
Deutschland" kam. Zu Beginn dieser Periode steht der Eichmann-Prozess,
der einen Deutschen in einem Käfig sitzend als Ausdruck deutscher Schuld
präsentierte. Einen wichtigen Einschnitt sieht Bodemann mit dem
Sechs-Tage-Krieg 1967, der neben einer bestimmten Gleichsetzung von
Juden und Deutschen, beispielsweise der Gleichsetzung von Moshe Dayan
mit Erwin Rommel, eine Hinwendung des deutschen politischen
Etablishments zum Staat Israel zur Folge hatte. Gleichzeitig ermöglichte
die Konzentrierung auf Israel die Ausblendung jüdischen Lebens in
Deutschland und deutscher Juden. Moshe Zimmermann untersucht schließlich
"Täter-Opfer-Dichotomien als Identitätsformen" und widmet sich dem Image
der Juden als ewige Opfergruppe.
Den Abschluss des Bandes bilden zwei
Aufsätze zur politischen (De-)Legitimierung, Dietrich
Mühlbergs Thesen unter dem Titel "Vom langsamen Wandel der Erinnerung an
die DDR" und Axel Schildts "Überlegungen zur Historisierung der
Bundesrepublik".
Der Band bietet in vielen
verschiedenen Perspektiven einen Einblick in die problematische
Beziehung zwischen Geschichte und Gedächtnis, stellt theoretische
Grundfragen heraus und zeigt anschauliche Beispiele. Es bleibt zu
wünschen, dass der Band nicht nur beim Fachpublikum gefallen findet und
dazu beiträgt, zeitgeschichtliche Forschung in die Öffentlichkeit zu
tragen, wie es die Verfasser der Beiträge gefordert haben.
hagalil.com
21-02-03 |