Leseprobe Epilog: Der Mufti und die
Deutschen
Von Matthias Küntzel
Meine Blickweise auf den Palästina-Konflikt zwischen 1920 und
1948 unterscheidet sich signifikant von anderen Darstellungen.
Dies gilt besonders für Texte, die, wie Walter Hollsteins Kein
Frieden um Israel oder Helga Baumgartens Palästina: Befreiung in
den Staat vorzugsweise in der Linken rezipiert worden sind.
Warum wird darin so selten die Stärke der palästinensischen
Fraktionen erwähnt, die sich mit den Zionisten arrangieren
wollten? Warum wird noch seltener der Einfluß des Islamismus auf
die 1936 beginnenden Unruhen thematisiert, warum der Beitrag der
Nazis zur Entfachung dieser Unruhen vollständig ignoriert?
Diese voneinander abweichenden Betrachtungsweisen haben mit der
unterschiedlichen Beurteilung des Mufti von Jerusalem, Amin el-Husseini, zu tun.
Seit 1947 ist dessen Bündnis mit den Nazis dokumentiert. In diesem Jahr
veröffentlichte Simon Wiesenthal seine material- und fotoreiche Dokumentation
Großmufti – Großagent der Achse. Die Fotos zeigen den Mufti gemeinsam mit
Hitler, Goebbels, Himmler, Eichmann und immer wieder bei den bosnischen
Freiwilligen der Waffen-SS. 1988 veröffentlichte Klaus Gensicke seine
Dissertation Der Mufti von Jerusalem, Amin el-Husseini, und die
Nationalsozialisten, die auf einer Untersuchung aller einschlägigen
unveröffentlichten Aktenbestände basiert. Damit war der Kenntnisstand über
Ausmaß und Dimension der Nazi-Mufti-Kooperation im deutschsprachigen Raum in
seither unerreichter Güte präzisiert.
Die Einflußnahme der Nazis auf die Frühgeschichte des Nahostkonflikts ist ebenso
bedeutsam wie folgenreich gewesen. Zweifellos hat die NSDAP bei der Formulierung
des antisemitischen Antizionismus eine Vorreiterrolle gespielt. 1920 wurden die
Protokolle der Weisen von Zion erstmals in deutscher Sprache publiziert. Alfred
Rosenberg, einer der Chefideologen der NSDAP, der die Protokolle 1918 von Moskau
nach Deutschland gebracht haben soll, zog schon 1921 in seinem Buch Der
staatsfeindliche Zionismus die aus diesem Machwerk abgeleitete Konsequenz:
"Zionismus ist ... meistens ein Mittel für ehrgeizige Spekulanten, sich ein
neues Aufmarschgebiet für Weltbewucherung zu schaffen." Adolf Hitler schloß sich
dieser Position an: "Die jüdische Heimstätte in Palästina" sei "nichts anderes
... als ein staatlicher Mittelpunkt für den destruktiven Einfluß der jüdischen
Interessen."[1]
Dieser eliminatorische Antizionismus veranlaßte den Mufti, die neuen deutschen
Machthaber ab 1933 mit immer neuen Kooperationsangeboten zu traktieren. Doch
erst als 1937 mit dem britischen Teilungsplan die "Gefahr" eines jüdischen
Staates Aktualität erhielt, wurde sein Begehren unterstützt. Nun begann
Nazi-Deutschland, den vom Mufti geleiteten "Aufstand" in Palästina mit
Waffenlieferungen und Finanzhilfen zu unterstützen. Ohne diese Hilfe aus Berlin
hätte der "Aufstand" nicht durchgeführt werden können, räumte der Mufti später
ein. Die von Deutschland unterstützte Erhebung zeichnete sich durch zwei
Besonderheiten aus: Erstens nutzte der Mufti die Kämpfe gegen Briten und
Zionisten, um mit seinen Widersachern unter den Palästinensern, die nicht auf
Juden schießen wollten, aufzuräumen. Zweitens wurden erstmals "islamistisch"
kontrollierte Zonen etabliert, in denen schon die Abweichung von der
Kleiderordnung mit dem Tod bestraft wurde. Beides stieß bei den deutschen
Unterstützern dieser Erhebung auf Sympathie. Das langfristige Kalkül der Nazis
wurde 1938 von Alfred Rosenberg benannt: "Je länger der Brand in Palästina
anhält, um so mehr festigen sich die Widerstände gegen das jüdische Gewaltregime
in allen arabischen Staaten und darüber hinaus auch in den anderen moslemischen
Ländern."[2]
So fanden alle wichtigen Weichenstellungen zur Torpedierung einer
arabisch-jüdischen Verhandlungslösung schon in der Phase der
Nazi-Mufti-Kooperation statt: Ausschaltung der palästinensischen Politiker, die
eine Zwei-Staaten-Lösung befürworteten, Einschwörung der arabischen Welt auf den
eliminatorischen Antizionismus, Islamisierung des Palästina-Konflikts. All dies
ist evident. Um so verblüffender ist die Hartnäckigkeit, mit der man gerade
diese Kooperation besonders in Deutschland in vielsagendes Schweigen hüllt.
Bis heute wird Gensickes Studie in Fachbüchern, in Universitätsseminaren (z.B.
den Islam-Seminaren der Freien Universität Berlin) wie auch in der medialen
Öffentlichkeit systematisch ignoriert. Eine Nachfrage bei Gensickes Verleger
ergab, daß sein Buch – mit der Ausnahme eines Achtzeilers im "Jahrbuch 1989 für
Extremismus und Demokratie" – in keiner deutschen Zeitschrift je besprochen
wurde.[3] Auch die Fachliteratur schweigt das Buch, obwohl es als "Ärgernis"
durchaus registriert wurde, angestrengt tot: nicht nur in der PLO-Studie Helga
Baumgartens von 1991, sondern selbst in so einschlägigen Werken wie Gerhard
Höpps Mufti-Papiere aus dem Jahr 2001 oder in Gudrun Krämers Geschichte
Palästinas von 2002.
Die Nichtbeachtung von Gensickes Werk wirft ein bezeichnendes Licht auf den
Umgang mit der Kollaboration zwischen dem Mufti und den Nazis: in der Regel wird
sie entweder vollständig ignoriert (Walter Hollstein) oder indigniert als
Marginalie abgetan. So findet sich in Gudrun Krämers mehr als 400 Seiten starker
Studie über die gesamte Affäre nur der einzige Satz: "Besonders kontrovers" –
lautet ihre verunglückte Formulierung – "ist und bleibt seine Rolle im
Nationalsozialismus, die ihn für viele – und keineswegs nur jüdische Beobachter
– nachhaltig diskreditierte." Auch Helga Baumgarten beschränkt sich in ihrer
nicht minder umfangreichen Studie auf die folgende Behauptung: "Am Schluß stand
der sowohl für ihn selbst als auch für die palästinensische Nationalbewegung
verhängnisvolle und folgenreiche Aufenthalt im nationalsozialistischen Berlin."
Dem Palästina-Spezialisten aus früheren DDR-Zeiten, Klaus Polkehn, dürfte
freilich schon diese "Kritik" zu weit gegangen sein: Des Muftis Tätigkeit
"beschränkte sich ... in Nazi-Deutschland wesentlich darauf, kurz für einige
Propaganda-Auftritte zur Verfügung zu stehen und anschließend in einer Art
,goldener Käfig‘ zu schwinden." Karam Khella, ein Hamburger Dozent, der in der
antiimperialistischen Linken einen guten Ruf haben soll, wäscht des Muftis
Nazi-Aktivitäten schließlich vollends rein: "1940 (hat) Husseini einen richtigen
Schritt gemacht. ... Er ist nach Deutschland gefahren, um Druck auf die Nazis
auszuüben, mit politischen Mitteln, aufzuhören mit dieser Verfolgung, die
Probleme schafft." Der Mufti also als verkappter Widerstandskämpfer gegen die
Juden-Verfolgung? Anläßlich eines Seminars der "Autonomen Palästina Gruppe Wien"
geht Khella auch auf die Rekrutierung bosnisch-muslimischer SS-Einheiten durch
den Mufti ein: "Husseini hat die Palästinafrage islamisch legitimiert, hat
versucht, muslimische Freunde zu gewinnen, und so kann ich mir gut vorstellen,
daß er diese Funktion auch in anderen islamischen Gemeinden auf dem Balkan
getragen hat."[4] In all diesen Darstellungen bleibt nicht nur die Unterstützung
des Mufti für die Shoah, sondern überdies die Einflußnahme der Nazis auf die
Verhältnisse in Palästina vollständig ausgeklammert. Die meisten der hier
zitierten Autorinnen und Autoren würden sich gewiß ohne jedes Zögern als
"Antifaschisten" bezeichnen. Im Fall Palästinas wird dieser Anspruch jedoch in
einer ausgesprochen auffälligen Weise nicht umgesetzt.
Wer als Antifaschist die Politik des Mufti als verbrecherisch bewertet, da sie
mit der Nazi-Strategie vollständig kompatibel war, wird den Opponenten des Mufti
– den Nashashibis, dem jordanischen Königshaus, den christlichen Notabeln –
politische Sympathie entgegenbringen müssen und sei es nur aus einem einzigen
Grund: Diese Gruppen hatten auf eine wie auch immer bedingte Kooperation mit dem
Zionismus gesetzt, nicht aber auf seine Eliminierung.
Genau entgegengesetzt sieht das freilich eine linke Palästina-Solidarität, die
sich weitaus lieber im Lager des "radikalen" el-Husseini als auf der Seite der
als "opportunistisch" kritisierten Nashashibis positioniert.
Exemplarisch sei die Studie von Helga Baumgarten zitiert. Während der Mufti hier
als "der charismatische und einflußreiche Führer an der Spitze der Bewegung"
charakterisiert wird, "der über die breiteste Anerkennung im gesamten Land
verfügt", fällt das Urteil über seine nichtfaschistischen und den Zionisten
gegenüber gesprächsbereiten Widersacher geradezu vernichtend aus: "Die
zionistische Bewegung und ihre Agenten bestachen wiederholt palästinensische
Notablen", heißt es hier über die Nashashibis, "um gemeinsam mit ihnen die
Position Hajj Amins [el-Husseini] zu untergraben oder mit gekaufter – oder
erzwungener – palästinensischer Legitimation ihre eigenen Ziele zu
verfolgen."[5] Hier wird a priori unterstellt, daß die "eigenen Ziele"
selbstsüchtiger Natur waren und den Interessen des "palästinensischen Volks"
widersprachen.
Das dieser Darstellung zugrunde liegende Paradigma wird weder hinterfragt noch
erklärt: Es versteht sich von selbst. Es mißt die "Fortschrittlichkeit" eines
Palästinensers allein am Maßstab seiner antizionistischen Radikalität, während
die am wenigsten anti-israelisch eingestellten Kräfte als a priori verräterisch,
feige, bestochen und reaktionär hingestellt werden. Die Möglichkeit, daß es im
Interesse der Palästinenser liegen könnte, sich mit den jüdischen Einwanderern
zu verständigern, kommt nicht vor.
Stattdessen werden selbst die Aktivitäten des Mufti unter das Paradigma eines
"revolutionären" (ergo: gerechten) palästinensischen Widerstands subsumiert.
Diese Position setzt dies in der Tat die Leugnung des nationalsozialistischen
Antizionismus und der Funktion, die der Mufti in diesem Zusammenhang spielte,
voraus.
Ist es da weiter erstaunlich, daß diese Autorinnen und Autoren die
arabisch-jüdischen Auseinandersetzungen im britischen Mandatsgebiet eher nach
dem Maßstab eines antisemitischen Antizionismus als nach dem Maßstab des
Antifaschismus beurteilen?
Zum Beispiel den antisemitischen Pogrom von 1929, der sich gegen die
autochthonen Juden entlud und 133 von ihnen das Leben kostete: Walter Hollstein
beschönigt diese Ereignisse als arabische "Unruhen, die sich gegen die
zionistische Machtpolitik in Palästina richteten". Die Zeitschrift der deutschen
Palästina-Solidarität, Al Karamah, feierte den Pogrom gar als den "Aufstand von
1929".[6]
Oder die Gewaltausbrüche der Jahre 1936–39: Sie gelten den Marxistischen
Blättern als "Guerilla-Krieg und palästinensischer Widerstand", während sie Al
Karamah gar als "bewaffnete Revolution" glorifiziert. Auch Helga Baumgarten
idealisiert sie als "arabische Revolte, mit der die Massen der Bauern ... gegen
die zionistische Implantation in ihrem Lande rebellierten". Die Tatsache, daß
der Mufti in dieser von den Nazis finanzierten Revolte seine Widersacher
beseitigte und Teile Palästinas mit terroristischen Methoden islamisierte –
davon ist so gut wie nie die Rede. Eine Ausnahme macht Gudrun Krämer, die den
islamistischen Terror jedoch nicht anprangert, sondern verklärt: So stößt der
drakonisch durchgesetzte Schleierzwang bei ihr auf eine geradezu empathische
Sympathie. Sie erwähnt "die Frauen der Jerusalemer Aristokratie", die "als Damen
der Gesellschaft" gern "europäisch gewandet und das Gesicht frei"
spazierengingen, und fährt fort: "Gegen diese Zeichen der Verwestlichung, gegen
den Verfall der Sitten, für Moral und Anstand und in diesem Zusammenhang auch
für den Schleier sprachen sich islamische Gelehrte und Aktivisten vom Mufti ...
aus." Mehr noch: Die gewalttätig erzwungene Unterwerfung unter das islamistische
Diktat wird von der Berliner Professorin als ein Ausdruck für "ausgeprägtes
Bewußtsein für soziale Gerechtigkeit und Gleichheit" gelobt, daß möglicherweise
"mit sozialen Ressentiments gegen ,die da oben‘" verbunden gewesen sei".[7]
Warum haben sich in den letzten 35 Jahren derartige Interpretationen des
Palästina-Konflikts durchgesetzt, die den Nationalsozialismus und den
Antisemitismus weitgehend ignorieren, den Mufti und seine Anhänger dagegen
anpreisen und den Islamismus idealisieren,?
Zunächst entspricht diese Sichtweise dem Selbstverständnis der PLO. 1968
definierte sie ihren Antizionismus als "Nationalen Befreiungskampf" und stellte
ihn rhetorisch mit den Guerilla-Kriegen eines Che Guevara oder Mao Tse Tung auf
eine Stufe. Diese Zuschreibungen wurden nachträglich auf die
Auseinandersetzungen der vergangenen fünfzig Jahre zurückprojiziert, die man als
eine Kette kontinuierlichen Volkswiderstands und heroischer Aufstände zu feiern
beschlossen hatte. Da paßte eine Kritik am Mufti wahrlich nicht hinein. Im
Gegenteil: Da der Heldenmut vergangener Kämpfe den für die Zukunft benötigten
Heroismus inspirieren sollte, wurden zurückliegende Gewaltakte, falls sie für
die Heroisierung wenig hergaben, retouchiert: Aus dem 1929 vollzogenen Pogrom an
alten und wehrlosen Juden wurde ein Aufstandsversuch und aus den tribalistischen
Bandenkämpfen von 1937/38 eine Revolution. Man gab sich nicht nur den Anschein,
Mao und Che zu kopieren, sondern erweckte zugleich den Eindruck, deren
eigentliche Vorläufer zu sein.[8]
Diese Form von Geschichtsklitterung kam der neuen Palästina-
Solidaritätsbewegungen nach 1968 nur allzu gut zupaß, war man doch daran
interessiert, auch den jüdisch-arabischen Konflikt ungeachtet seiner
historischen Spezifik in das Korsett eines antiimperialistischen Manichäismus zu
zwängen. "Die Welt im Nahen Osten ist in zwei Fronten geteilt," formulierte es
prototypisch die DKP-Zeitung Unsere Zeit: "Da sind die arabischen Völker, die
von den progressiven Kräften der Welt im Sinne des Fortschritts unterstützt
werden, demgegenüber stehen die zionistischen Kreise, die jüdische Bourgeoisie
und Monopole in und außerhalb Israels, die von der ganzen kapitalistischen Welt
unterstützt werden."[9] Dieser Standpunkt hat schon immer jedes objektivierbare
Kriterium von Fortschrittlichkeit vermissen lassen. Ob in den arabischen Staaten
der Feudalismus, eine Militärdiktatur oder noch die Sklaverei herrschte, ob sie
Kommunisten hinrichteten, Juden verfolgten und Frauen unterdrückten – dies war
und ist egal. Der Umstand, daß jordanische Soldaten 1970 im "Schwarzen
September" 20.000 Palästinenser töteten und die syrische Regierung 1982 in Hamah
erst 20.000 islamistisch orientierte Araber und später – 1983, 1985 und 1988 –
Tausende von Arafat-loyalen Palästinensern töten ließ, hat bis heute kaum
jemanden interessiert. Entscheidend ist allein, "daß sie sich mit dem
,imperialistischen Israel‘ und wegen der Weigerung der USA, diesen ihren
,Brückenkopf‘ durch die Araber liquidieren zu lassen, partiell auch mit dem
amerikanischen Imperialismus im Konflikt befinden", schreibt 1971 Michael
Landmann in seinem auch heute noch aktuellen Buch über die Gedankenwelt der
"Pseudolinken" Deshalb seien die Araber "nur vordergründig reaktionär und
korrupt, in der Tiefe dagegen potentielle Träger der sozialistischen
Weltrevolution. Das beweisen sie auch durch ihre kompromißlose Weigerung, mit
Israel zu verhandeln, durch ihr Beharren auf der Gerechtigkeit der Gewalt."[10]
So setzte sich in der deutschen Linken unbewußt-bewußt die Logik des größten
palästinensischen Nazis durch. Israel wird als ein Produkt des Imperialismus
imaginiert, obwohl es doch in Abwehr des britischen Imperialismus entstand.[11]
Man bezeichnet es als einen Brückenkopf des Imperialismus, obwohl es – im
Gegensatz zu Saudi-Arabien – noch jeder imperialistischen Macht die Einrichtung
eines Militärstützpunkts am Mittelmeer verweigerte. Nie aber wird die
Fortschrittlichkeit eines arabischen Landes danach bemessen, ob es bereit ist,
Israel anzuerkennen und eine Normalisierung der Beziehungen in die Wege zu
leiten. Die eher auf Ausgleich orientierenden Ansätze der Nashashibis konnten
dieser Logik gemäß stets nur ignoriert oder denunziert werden.
Der wichtigste Grund für die Weigerung, die Verbindung zwischen dem Mufti und
den Nazis auch nur ins Auge zu fassen, hat mit den Fallstricken einer
Vergangenheit zu tun, die vorzugsweise im Unbewußten wirkt. So hat die Tatsache,
daß kein anderes Land deutsche Linke derart reflexhaft zu Vergleichen mit dem
Nationalsozialismus provoziert wie Israel, mit den spezifischen Identifikations-
und Projektionsbedürfnissen der Deutschen zu tun.[12] Die radikale Linke der
siebziger Jahre hatte den unbewußten Wunsch nach Entlastung, der hinter
derartigen Analogieschlüssen stets steckt, als erste ausleben dürfen. Heute wird
derartigen Bedürfnissen auch vom gesellschaftlichen Mainstream nachgegangen, wie
Norbert Blüms Rede vom israelischen "Vernichtungskrieg" und der rhythmische
Applaus, mit dem PLO-Repräsentanten neuerdings auf CDU-Veranstaltungen
verabschiedet werden, beweist.
Klaus Gensickes Studie über den Mufti wird auch aus diesem Grund konsequent
boykottiert: Die Erkenntnis der vom Mufti verkörperten Verbindung zwischen
palästinensischer Nationalbewegung und NS würde die Identifikation mit den
Palästinensern ebenso komplizieren, wie die Projektion der deutschen
Vernichtungspolitik auf Israel. Da formt sich die nach Entschuldung strebende
psychologische Disposition der Deutschen doch lieber ihre eigene Realität, in
der es partout keine Verbindung zwischen Nationalsozialismus und
palästinensischem Widerstand gibt.[13]
So blieb es dem Computerwissenschaftler David Gelernter vorbehalten, eine
Forderung zu stellen, auf die nur kommt, wer sich vollständig außerhalb des so
disponierten Kollektivs bewegt. Einige Wochen nach dem 11. September bat
Gelernter die Deutschen um den Gefallen, der Welt den eliminatorischen
Antisemitismus der al-Qaida zu erklären, denn nur sie, die Vollstreckerinnen und
Vollstrecker des Holocaust, kennten sich damit aus. Gelernter schrieb: "Bin
Ladins Terroristen haben versucht, die größte jüdische Stadt der Welt in ein
Brandopfer zu verwandeln. Ich weiß nicht, ob diese Symbolik intendiert war; aber
ich weiß, daß die Deutschen dies der Welt erklären sollten. Die Amerikaner
verstehen das nicht: reiner, unmotivierter Haß auf die Juden? Purer Haß aus
Prinzip? Deutsche verstehen das sehr wohl." Und er wiederholte: "Die Deutschen
sind die einzigen, die uns den Grund dafür erklären können."[14]
Gelernter hat damit um eine Selbstverständlichkeit gebeten und damit zugleich
eine Zumutung für Deutsche formuliert. Die Erkenntnisblockade, die schon den
Blick auf den Mufti verstellt, läßt noch viel weniger den von Gelernter
vorgeschlagenen Blick auf die brennenden Twin Towers zu. Je näher sich ein
Ereignis dem historischen deutschen Verbrechen – der Leiche im Keller –
anzunähern scheint, desto wirkungsvoller wird der Blick darauf verwehrt, desto
rigoroser werden Erkenntnis und Einsicht darüber blockiert.
In Deutschland setzt sich das Schweigen über den Mufti als das Schweigen über
den Antisemitismus der Islamisten fort. Von den wichtigsten programmatischen
Texten des islamistischen Antisemitismus – der "Charta" der Hamas von 1988 und
dem 1950 veröffentlichten Aufsatz Unser Kampf mit den Juden von Sayyid Qutb –
liegen bis heute keine vollständigen deutschen Übersetzungen vor. Die deutsche
Islamwissenschaft wird hieran kaum etwas ändern. Weder in ihren Interpretationen
der "Charta" noch in ihrer Darstellungen Sayyid Qutbs taucht das Begriff des
Antisemitimus auch nur auf.[15]
Anmerkungen:
[1] Zit. nach Bernd Philipp Schröder, Deutschland und der Mittlere Osten im
Zweiten Weltkrieg, Göttingen 1975, S. 200, sowie A. Rosenberg 1938, a.a.O.,
S. 86.
[2] A. Rosenberg, a.a.O., S. 208.
[3] Die einzige Kurzbesprechung ist in der Schweizer Zeitschrift
Mitteilungen erschienen, einen weiteren englischsprachigen Kurzverweis
veröffentlichte die Zeitschrift Shofar.
[4] Zionismus und palästinensischer Widerstand. Seminar mit Dr. Karam
Khella, Wien 1989, S. 71 und 73; Klaus Polkehn, Zusammenarbeit von Zionismus
und deutschem Faschismus. "Der Deutsche" und der Mufti – und die Zionisten,
in: Al Karamah 9/1988, S. 17; Helga Baumgarten, a.a.O., S. 36, sowie Gudrun
Krämer, a.a.O., S. 256. Die zahlreichen sprachlichen und grammatikalischen
Fehlleistungen dieser Textauszüge wurden beibehalten, da sich in ihnen der
Nexus zwischen gedanklicher und sprachlicher Verwirrtheit offenbart.
Offenbar hätten die Autorinnen und Autoren selbst noch auf die unwillig
hingeworfene Andeutung lieber gänzlich verzichtet.
[5] Helga Baumgarten, Palästina: Befreiung in den Staat. Die
palästinensische Nationalbewegung seit 1948, Frankfurt/M. 1991, S. 33 ff.
[6] Walter Hollstein, Kein Frieden um Israel, Zur Sozialgeschichte des
Palästina-Konflikts, Frankfurt/M. 1973, S. 120, sowie Omar Ibrahim, Zur
Geschichte der palästinensischen Aufstände, in: Al Karamah 8/1988, S. 12 ff.
[7] Krämer, a.a.O., S. 337 ff; Fischer-Weth, a.a.O, S. 83; Baumgarten,
a.a.O., S. 35; Ibrahim, a.a.O., S. 15, sowie Martin Robbe, Die
Palästinenser: Kapitulation oder Eigenstaatlichkeit? Zur Geschichte und
Problematik eines Konflikts, in: Marxistische Blätter (Flugschriften 08),
Essen 2001, S. 21ff.
[8] Yehoshafat Harkabi, Al Fatah´s Doctrine, in: Laqueur/Rubin, a.a.O., S.
388 f.
[9] Unsere Zeit vom 13. März 1975, zit. nach Haury, a.a.O., S. 222.
[10] Michael Landmann, Das Israelpseudos der Pseudolinken. Antwort an Isaak
Deutscher, Berlin 1971, S. 27.
[11] Während der Mandatszeit hielt England die jüdische Einwanderungsquote
trotz steigender Verfolgung in Europa mit Rücksicht auf die Araber niedrig.
Als der Sieg der Alliierten gegen die Nazis sicher war, begannen sich
jüdische Untergrundorganisationen mit Terroraktionen gegen die britischen
Restriktionen für die von den Nazis verfolgten Juden zu wehren.
Großbritannien trug 1948 dazu bei, den Widerstand gegen die Errichtung des
Staates Israel zu organisieren, den es, als das Mandat auslief, dem
konzentrierten arabischen Angriff überließ. Als später Israel in die UNO
aufgenommen wurde, enthielt sich Großbritannien der Stimme (vgl. Landmann,
a.a.O., S. 38).
[12] U. Becker, M. Küntzel et. al., a.a.O., S. 106 ff.
[13] Die Weigerung der deutschen Öffentlichkeit wahrzunehmen, daß 1999 Juden
in Pristina von UCK-Banden vertrieben worden sind, stellt ein weiteres
Beispiel für derartige Erkenntnisblockierungen dar. Vgl. M. Küntzel,
Deutschland und das Kosovo, in: S. Jäger, J. Paul (Hg.), "Diese Rechte ist
immer noch Bestandteil unserer Welt". Aspekte einer neuen Konservativen
Revolution, Duisburg 2001, S. 324.
[14] David Gelernter, Warum Amerika? Bin Ladins Haß ist Judenhaß, in: FAZ
vom 27. Oktober 2001.
[15] Siehe z.B. Andreas Meier, Politische Strömungen im modernen Islam.
Quellen und Kommentare, Wuppertal 1995, S. 126 ff., sowie Krämer 1999, S.
215 f.
Matthias
Küntzel
Djihad und Judenhaß
Über den neuen antijüdischen Krieg
ca-ira Verlag, Freiburg 2002, 13.50 EURO
ISBN 3-924627-07-X
[Bestellen?]
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20-10-02 |