Stuart E. Eizenstat war der amerikanische
Chefunterhändler bei den Verhandlungen über die Entschädigung für
Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter im Nazireich. Als Staatssekretär
in der Clinton-Administration war er zunächst Verhandlungspartner des
deutschen Regierungsbeauftragten Bodo Hombach, der allerdings wie ein
Elefant im Porzellanladen agierte und nach seinem Ausscheiden aus dem
Schröder-Kabinett durch Graf Lambsdorff abgelöst wurde. Vor allem aber
war Eizenstat Gegenspieler von Daimler-Chrysler-Finanzchef Manfred
Gentz, dem Sprecher der Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft.
Eizenstat war einst politischer Chefberater in Jimmy Carters
Wahlkampfteam 1978, später US-Botschafter bei der Europäischen Union.
1995 erhielt er vom Außenministerium in Washington den Auftrag, in den
osteuropäischen Staaten die Rückgabe des von den Nazis beschlagnahmten
jüdischen Eigentums zu erreichen.Dadurch kam Eizenstat in enge
Berührung mit dem Schicksal der osteuropäischen Nazi-Opfer. Erst jetzt
erfuhr er, daß drei Schwestern seiner Großmutter in Litauen von den
Nazis ermordet worden waren. Eizenstat, ein strammer Antikommunist,
stellte fest, wie er in seinem Buch "Unvollkommene Gerechtigkeit" über
den "Streit um die Entschädigung der Opfer von Zwangsarbeit und
Enteignung" - so der Untertitel - schreibt, daß die osteuropäischen
Opfer Hitlers "von den Deutschen nie eine Kompensation erhalten hatten,
die vergleichbar wäre mit den Milliarden, die an jüdische
Holocaust-Opfer geflossen waren".
Durch einen Artikel im Wall Street Journal vom 21. Juni 1995 wurde
Eizenstat auf den Schweizer Bankenskandal aufmerksam, d. h. auf die
Ausplünderung jüdischer Konten während der Nazi-Zeit. Er erwirkte vom
Außenministerium die Befugnis, auch diesen Bereich in seinen
Sonderauftrag einzubeziehen. Die Schweizer Bankenaffäre wurde damit zum
Auslöser eines Prozesses, der, wie er schreibt, "zur Schlußabrechnung
mit dem Zweiten Weltkrieg geriet". Auch die deutsche Wirtschaft konnte
sich einer Diskussion nicht mehr länger entziehen, vor allem der Frage,
warum es fünfzig Jahre nach Kriegsende noch immer keine Entschädigung
für Zwangsarbeiter gab. Die Regierung Kohl hatte jede Debatte hierüber
strikt verweigert. Die dramatischen Verhandlungen mit der Schweiz, mit
den österreichischen Banken und die mit den deutschen Vertretern in den
Jahren 1999 und 2000 schildert Eizenstat in seinem Buch - trotz des
Umfangs eine spannende Lektüre. Denn der Autor rechnet schonungslos mit
dem schäbigen Versuch der deutschen Wirtschaft und der
Regierungsbürokraten ab, sich billig herauszukaufen. Genau das hatten
Opferanwälte wie Melvin Weiss, Ed Fagan oder Michael Hausfeld mit
Sammelklagen gegen deutsche Unternehmen zu verhindern versucht. Wenn
auch der juristische Erfolg für die Kläger ungewiß war, wurden diese
Prozesse doch höchst unangenehm für die deutsche Wirtschaft. Sofort nach
der Bundestagswahl 1998 änderte sich die Situation.
Eizenstat schreibt: "Schröder versicherte den Wirtschaftsbaronen, er
werde mit ihnen zusammenarbeiten und Kosten und Probleme mit ihnen
teilen." Es kam zur Kontaktaufnahme zwischen Eizenstat und Hombach, über
den die Amerikaner entsetzt waren: "Hombach argumentierte, daß Polen und
Tschechen und andere schon seit Generationen freiwillig nach Deutschland
gekommen seien, um als Erntehelfer etwas Geld zu verdienen." Manche
hätten - so Hombach - die Zeit als Zwangsarbeiter in Deutschland als
eine der besten ihres Lebens empfunden. Hombach verweigerte jede
Entschädigung für Osteuropäer und wollte mit den Klägeranwälten nichts
zu tun haben. Sie hinterließen nur verbrannte Erde. Er teilte lediglich
vertraulich mit, daß die deutsche Industrie 1,7 Milliarden DM für einen
"Zukunftsfonds" ausgeben würde.
Eizenstats Gespräche mit Manfred Gentz, dem Finanzvorstand von
Daimler Benz, ergaben ebenfalls keinen echten Fortschritt. "Der
Darstellung Gentz' zufolge sollten nur Arbeitssklaven und
Zwangsarbeiter, die heute in Armut lebten, in den Genuß einer
finanziellen Entschädigung kommen dürfen; denn es gebe 'keine moralische
Verpflichtung, wenn sie nicht bedürftig sind'. Und sein Kollege Michael
Jansen von der Degussa (heutiger Vorsitzender der Stiftung für die
Entschädigung der Zwangsarbeiter) sagte, die deutsche Industrie wolle
keine Holocaust-Opfer entschädigen, die heute Ärzte seien." Eizenstat
wurde klar, daß nur mit Einbeziehung der amerikanischen Klägeranwälte,
der Jewish Claims Conference, der osteuropäischen Staaten sowie Israels
eine Lösung zustande kommen würde. Er sorgte dafür, daß es zur
"Vollversammlungen" aller Beteiligten in Washington und Bonn kam. Dabei
stellte sich heraus, daß die deutsche Wirtschaft vor allem ein Ziel
verfolgte: Sie verlangte "Rechtssicherheit", also Schutz vor lästigen
Klagen, Verwaltungsvorschriften oder Gesetzesinitiativen. Daß Gentz
einmal sogar davon sprach, es müsse nicht nur "legal closure" (einen
juristischen Schlußstrich), sondern zugleich "moral closure" (einen
moralischen Schlußstrich) geben, empörte Melvin Weiss so, daß Gentz dies
sofort zurücknehmen mußte.
Es blieb aber dabei: Für das lächerliche Angebot von einer Milliarde
DM wollte die deutsche Wirtschaft ein Einwirken der amerikanischen
Regierung auf die unabhängige US-Justiz als Gegenleistung erkaufen.
Während der Verhandlungen starben Tausende von hochbetagten Opfern. Die
Öffentlichkeit konnte das Gefeilsche um den Gesamtbetrag nicht mehr
nachvollziehen. Bundeskanzler Schröder fürchtete, bei einer zu hohen
Summe würde die äußerste deutsche Rechte Zulauf erhalten.
Letztendlich einigte man sich im Sommer 2000 auf zehn Milliarden DM,
zu zahlen je zur Hälfte von der deutschen Wirtschaft - steuerlich
absetzbar als Betriebsausgaben - und von der Bundesrepublik Deutschland.
Für die einzelnen Opfer bedeutete dies einen Höchstbetrag von 5 000 bis
15 000 DM. Gentz beschimpfte die USA heftig, da ihm der Rechtsschutz
nicht weit genug ging. Eizenstat: "Gentz krönte seine Litanei der
Anklagepunkte mit einer letzten Beleidigung. Weit entfernt von
Partnerschaft zur Sicherung des Rechtsfriedens habe es in Wirklichkeit
eine Diktatur der USA gegeben."
Bis zur Auszahlung war noch ein weiter Weg. Die Juristen der
Wirtschaft fanden immer wieder neue Argumente für eine Verzögerung.
Eizenstat erwähnt, daß einer der Anwälte der Deutschen schon bei einer
der ersten Besprechungen erklärte, "sie wünschten eine 'final solution'
ihrer juristischen Probleme und ließen dabei unbedachterweise an Hitlers
Endlösung denken". Beamte des Finanzministeriums wie Otto Löffler, den
Eizenstat als preußischen Beamten alter Schule beschreibt, schafften es
zudem, daß sich "viele unserer mühsam errungenen Kompromisse bei ihm in
Luft auflösten". In dieser Phase löste der Bundestag die Blockade auf
und stellte den Eintritt der Rechtssicherheit fest, damit endlich die
Gelder an die Opfer ausgezahlt werden konnten. Eizenstat erwähnt diese
Rolle des Parlaments nur beiläufig. Das Buch ist eine inhaltsreiche,
detaillierte Schilderung der Verhandlungen aus der Sicht eines Insiders,
der selbstverständlich auch die eigene Rolle gebührend ins rechte Licht
rückt. Bei seinem Hauptkontrahenten stieß der Text auf wenig Gegenliebe.
Manfred Gentz hat mit einem vierseitigen Brief an Eizenstat vom 10. März
2003 sich gegen verschiedene Passagen verwahrt. Die deutsche Wirtschaft
ließ sich außerdem von einer willigen Historikerin aufschreiben, daß es
sich bei ihr in Sachen Zwangsarbeiterentschädigung um einen Verein von
Wohltätern handelt, und veröffentlichte deren Buch parallel zu dem
Eizenstats.