Zeruya Shalev:
Späte Familie
Berlin Verlag 2005
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Zeruya Shalev:
Späte Familie
Von Katrin Schuster
Die Geschichte wäre schnell erzählt: Eine Frau trennt
sich von ihrem Mann; dass die beiden ein gemeinsames Kind haben, macht
die Sache nicht einfacher. Dann verliebt sie sich in einen Anderen und
wagt den Versuch, eine neue Familie zu gründen.
Die Geschichte ist längst nicht so schnell erzählt, zum
Glück: Der Roman "Späte Familie" der israelischen Autorin Zeruya Shalev
ist mit beinahe 600 Seiten das umfangreichste ihrer Bücher. Er bildet
zugleich das Ende ihrer Trilogie über die Liebe in unseren Zeiten.
Zeruya Shalev schrieb weiter, wo sie im Jahr 2000 vorläufig unterbrochen
hatte: In "Mann und Frau", dem zweiten Teil nach "Liebesleben", erzählte
sie von der Krise einer Ehe. "Späte Familie" beginnt mit einer Trennung.
Nein: Es beginnt mit dem Satz "Ich bin tot", den Ellas
Sohn Gili ihr heiter entgegenschleudert und weiterspinnt. "Ich bin nur
ein Traum, singt er, du träumst die ganze Zeit. Am Schluss findest du
heraus, dass du gar keinen Sohn hast, für einen Moment schweigt er und
betrachtet mein Gesicht mit tanzenden Augen, mein Erschrecken vergrößert
sein Vergnügen, seine neue Boshaftigkeit, die an diesem Morgen geboren
wurde, sechs Jahre nach ihm, und ihn schon einhüllt wie die Gewänder,
die er früher so gerne getragen hat."
Meist sind Zeruya Shalevs Sätze noch länger, dieser
schlängelnde Sog aber ist immer da, der den Leser kaum innehalten lässt,
so zieht es ihn, so sinkt er gerne hinein in diesen Strom, immer weiter,
nur weiter. Und wenn Zeruya Shalev schon mal Punkte in ihr herrlich
manisches Mäandern setzt, dann sind das deutliche Zeichen. Die
Beschreibung von Gili findet ihr erstes Ende in einer solch abrupten
Zäsur: "Er hasst es, wenn man ihm beim Spielen zuschaut, er hasst es,
wenn ihm die Sonne in die Augen scheint, er versucht das Licht zu
verjagen wie eine lästige Fliege, er kann nicht schwimmen, er kann seine
Schnürsenkel nicht binden, er hat Angst davor, Fahrrad zu fahren, seine
Eltern haben sich gestern getrennt."
Heute ist sein erster Schultag. An dem Ella die dreiste
Unbedarftheit im Umgang mit den Worten völlig abhanden gekommen ist.
Gerade die selbstverständlichen geraten zur Bedrohung, "es sind die
harmlosen, freundlichen Worte, die gefährlich geworden sind: Vater,
Mutter, Familie, Heim. Schwestern und Brüder, Urlaub und Ausflug." Als
die Lehrerin Gili nach der Lieblingsbeschäftigung seiner Familie fragt,
sagt er "Streiten". Das Bild, das er in der Schule malt, ein Türschild
mit der Aufschrift "Das ist das Zimmer von Mama und Papa", hat keinen
Ort mehr, wo jüngst noch die benannte Gemeinsamkeit herrschte, denn
Ellas Mann, Gilis Vater Amnon, ist bereits ausgezogen. Die Lehrerin ist
nicht die einzige, in deren Bild der Welt eine alleinerziehende Mutter
gar nicht erst vorkommt.
So ist kein Satz mehr unverbindlich, keiner wiegt mehr
leicht, jeder Blick ein stummer Vorwurf, jeder Kommentar ist der falsche
und wird selten nur hingenommen, ohne dass Ella in ihrem Kopf
vervollständigte: Was er/sie damit eigentlich sagen wollte... Zwischen
den Fakten zu lesen ist schließlich ihre Profession: Ella ist
Archäologin. Seit einiger Zeit arbeitet sie an einem Aufsatz über den
Untergang der antiken Stadt Thera, an einigen gängigen
wissenschaftlichen Meinungen zweifelt sie. Ella bildet Legenden, Ella
entkräftet sie. Was ihr beruflichen Erfolg beschert, verlängert jedoch
im Privatleben nur die elende Unsicherheit. Ellas andauernde Frage
lautet schlicht und immer wieder und bei allem: War richtig, was ich
getan habe?
Für diese Archäologie des Zweifelns schürft Zeruya
Shalev tief im Beziehungsalltag. Der Mangel ist es, der Ella ihrer
Sicherheit beraubt, die Macht der Gewohnheit enfaltet sich vollends
erst, als das Gewohnte fehlt: Schrankfächer und Betthälften sind
plötzlich leer, Schmiege-Schultern und Sexpartner stehen nicht mehr nach
Bedarf zu ihrer Verfügung. All diese Randerscheinungen dienten als
Geländer auf dem Lebensweg, jetzt da sie fort sind, verliert Ella den
Halt. So wird die Vergangenheit im Nachhinein plötzlich ganz schön
rosarot. Schon macht sich Ella auf den Büßer-Weg zu Amnon.
Und auch Oded verzweifelt fast an Ellas Zweifeln ob seiner Neuheit,
Andersheit, Fremdheit. Die ewige Interpretiererei seiner Handlungen,
Gesten, Worte ist ganz und gar kein üppiges Startkapital für die sich
ernsthaft anbahnende Beziehung zwischen ihm und Ella, sondern
zuallererst Anlass für die üblichen Bösartigkeiten der Liebe. Dass Odeds
Exfrau ihm zudem vorwirft, er habe sie betrogen, ist ebenfalls kein
Dünger auf zarten Liebespflänzchen. Eher noch ein weiteres Argument, das
Ella freudig zwanghaft in ihr Repertoire der Dinge-die-dagegen-sprechen
aufnehmen wird – als Einsatz für den nächsten Streit. Allen gemeinhin
bekannten Merkmalen des Glücks misstraut sie scheinbar mutwillig.
Schließlich hat sie noch zu gut in Erinnerung, wie sie sich darin
getäuscht hat.
Dass diese ganzen Kurz- und Viel-zu-lang-Schlüsse,
dieses Sich-Verrückt-Machen, Straucheln und Zermürbungsdenken so
gleichermaßen individuell wie archetypisch, kurz: so durchweg
authentisch ist und trotz seiner Altbekanntheit überraschend viel
Spannung birgt, verdankt sich der großen Freiheit, die Zeruya Shalev
ihren Figuren gönnt. Nie gibt sie sich wissender als ihre Protagonistin,
in jedem Moment lässt sie ihr alle Wege offen und gibt ihr alle
Möglichkeiten in die Hand – als hätte nicht einmal die Autorin selbst
die geringste Ahnung, wie das alles weitergehen wird. So sehen wir uns
in Gefühl wie Verstand und überhaupt recht gut getroffen. Und wenn der
Vorhang fällt, sind – wie schön! – weiter alle Fragen offen.
hagalil.com
08-12-05 |