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Jacob Katz:
Tradition und Krise. Der Weg der jüdischen Gesellschaft in die Moderne.
Verlag C.H. Beck,
München 2002,
39,90 Euro

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"Tradition und Krise":
Der Gott der Geschichte

Jacob Katz über den jüdischen Aufbruch in die Moderne: "Tradition und Krise" ist erstmals auf Deutsch erschienen

Von Martin Büsser
Junge Welt, 09.10.02

Jacob Katz gilt neben Gerschom Scholem als einer der bedeutendsten jüdischen Historiker des 20. Jahrhunderts. Er studierte in den Dreißigern bei Karl Mannheim, emigrierte 1936 nach Palästina und arbeitete bis 1974 an der Hebräischen Universität in Jerusalem. "Tradition und Krise", eines seiner Hauptwerke, erschien 1961 in hebräischer Sprache und liegt nun erstmals auf Deutsch vor. Seine Bedeutung erschließt sich erst, wenn man akzeptiert, daß es sich nicht um ein spektakulär geschriebenes, mit kontroversen Thesen operierendes Buch handelt, sondern um eine nüchterne, historischer Genauigkeit verpflichtete Studie.

Katz untersucht darin die Geschichte der Juden zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert, was auf den ersten Blick enttäuschend anmuten mag: "Der Weg der jüdischen Gesellschaft in die Moderne", so der Untertitel, endet bei Katz zu genau dem historischen Moment, an dem der enorme jüdische Beitrag zum Denken der Moderne erst einsetzte – mit Moses Mendelssohn, also mit dem Beginn der Aufklärung. Die darauf folgende, spannende Geschichte, der Beitrag jüdischer Intellektueller in sämtlichen wissenschaftlichen wie kulturellen Bereichen, der unser Selbstverständnis einer modernen Gesellschaft so nachhaltig geprägt hat, bleibt bei Katz ausgeblendet. Ihm geht es um etwas ganz anderes, nämlich um die Untersuchung der Bedingungen, die zu einem solchen Aufbruch haben führen können, um jene Brüche innerhalb der jüdischen Gemeinschaft, die überhaupt erst modernistische Ideen ermöglicht haben.

"Ich habe dieses Buch nicht geschrieben", heißt es im Vorwort zur Erstauflage, "um für eine besondere Politik der Gegenwart einzutreten." Aber obwohl sich "Tradition und Krise" auf einen klar umrissenen, schon lange abgeschlossenen Zeitraum beschränkt, wirkt die darin behandelte Spannung zwischen Traditionalismus und Aufbruch bis in unsere Zeit hinein. So gelesen ist "Tradition und Krise" ein äußerst spannendes Buch, methodologisch mit Foucaults "Die Ordnung der Dinge" vergleichbar. Auch Foucault beschreibt die "Erfindung des Menschen" aus dem Geist der Humanwissenschaften heraus vor dem Hintergrund des 16. bis 18. Jahrhunderts, sorgte aber deshalb für so viel Diskussionsstoff, weil sich hinter dieser Genealogie nichts anderes als eine Analyse dessen verbarg, was wir geworden sind.

Dieses "Wir", das bei Foucault die gesamte westliche Gesellschaft einschließt, beschränkt sich auch bei Katz nur vermeintlich auf die jüdische Gemeinschaft. Ihre Gratwanderung zwischen Bewahrung der Tradition und Modernisierung kann durchaus exemplarisch für die gesamte damalige Gesellschaft gelesen werden. Der humanistische Kern dieser vor allem soziologischen Geschichtsschreibung besteht darin, daß die Besonderheit jüdischer Lebensformen zwar durchweg im Mittelpunkt steht, sich zugleich aber auch im Allgemeinen spiegelt. Katz beschreibt, warum die jüdische Gesellschaft lange Zeit "auf Grund ihrer sozialen wie religiösen Isolierung" dazu neigte, "ihre Beziehungen zu anderen Klassen weitgehend unter dem Aspekt der Nützlichkeit zu gestalten". 

Die ausgeprägte Traditionspflege ist Resultat einer Ausgrenzung und Absonderung gewesen. Ähnliches gilt für die wirtschaftliche Rolle der politisch entrechteten Juden, die lange Zeit zu Nichtjuden rein finanzielle Verbindungen pflegten: "Sie hatten schlicht keine andere Wahl. Ihre persönliche Sicherheit, ihr Niederlassungsrecht und ihr Recht, Geschäfte zu tätigen, hingen vollständig vom Herrscher ab." Katz zeigt auf, daß die Entstehung eines "jüdischen Kapitalismus" nicht nur ein von Außen auferlegter Zwang war – bis ins 17. Jahrhundert hinein war es Juden verboten, sich als Handwerker zu betätigen –, sondern daß die christlichen Herrscher den politisch entrechteten Juden die Rolle als Wirtschaftspartner aufdrängten, "weil man nicht befürchten mußte, daß sie im Ringen zwischen dem Herrscher und seinen Untertanen für letztere Partei ergreifen könnten."

Dies ist nur eine von vielen Stellen, anhand derer antisemitische Stereotypen historisch entkräftet werden. Aber natürlich ging es Katz nicht darum, mit an sich indiskutablen Vorurteilen aufzuräumen. Viel wichtiger ist die in "Tradition und Krise" gewonnene Erkenntnis, daß sich der jüdische Weg in die Moderne ungleich schwieriger als im christlichen Bürgertum gestaltet hat, und daß er am Ende vielleicht deshalb nachhaltiger hat wirken können, weil er aufgrund der Isolation als ganz und gar interner Prozeß einerseits langsamer, andererseits reflektierter vonstatten ging. Schrittweise haben sich die Kabbala-Bewegung, der Chassidismus und die Anhänger der Haskala – die Hinwendung zu anderen religiösen Gruppen und die Trennung von Glauben und Wissenschaft – aus einer internen Ablösung von Autorität und Tradition entwickelt. Der im 18. Jahrhundert einsetzende Bruch kam schließlich einer Revolution gleich. 

Über Jahrhunderte hatte die jüdische Gemeinschaft auf Krisen, Unterdrückung und sogar Vernichtung mit "dem traditionellen Hinweis auf göttliche Fügung" reagiert. Mit der Haskala-Bewegung wurde plötzlich das Ideal "zum Maßstab, an dem die Wirklichkeit kritisch gemessen wurde, und somit zum entscheidenden Faktor der aktiven Förderung des Geschichtsprozesses." Kein Wunder also, daß Katz sein ansonsten so nüchtern geschriebenes Buch mit einem geradezu euphorischen Satz beendet: "An diesem wichtigen Scheidepunkt hatten sie den Gott der Geschichte an ihrer Seite." Die Haskala bedeutete nichts Geringeres als die totale Umkehr des Blickwinkels, von der Vergangenheit in die Zukunft gerichtet, damit das mögliche künftige Ideal an den gegebenen Umständen messend. 

Es ist die Geburtsstunde jener großen jüdischen Tradition, die von Marx über Benjamin bis zu Adorno verlief, der Beginn einer Epoche, in der sich noch einmal und hoffentlich zum letzten Mal in der Geschichte all das polarisierte, was Katz bereits für das 16. bis 18. Jahrhundert herausgearbeitet hatte: Als Europa und vor allem Deutschland seine finsterste Zeit erlebte, haben sich viele Juden in ihrer Verzweiflung abermals darauf besonnen, ihre Ermordung als "göttliche Fügung" hinzunehmen, hingerichtet von jenen Judenhassern, deren Haß sich weniger gegen die traditionalistische als gegen die aufklärerische Tradition gerichtet hatte. Die Weichen, die zum monströsen Massenmord und seine bis heute nachhallende antisemitische Gesinnung geführt haben, sind sicher nicht im 18. Jahrhundert gelegt worden. Antisemitismus hat es schon vorher gegeben. 

Zu jener Zeit aber entstanden die ersten Formen einer kritischen jüdischen Diskussions- und Debattierkultur, die bis heute dafür sorgen, daß Antisemitismus und Intellektuellenfeindlichkeit fast immer Hand in Hand gehen. Wenn Jacob Katz also sein Buch mit dem Ausblick beendet, daß der "Gott der Geschichte" die Juden ab dem ausgehenden 18. Jahrhundert begleitet habe, ist dies nicht anders als ein Plädoyer für jene jüdisch intellektuelle Tradition zu verstehen, die ihre Wurzeln sehr wohl kennt und nicht verleugnet, sich aber auch nicht mehr darauf reduzieren und in die vor allem von außen zugewiesenen Grenzen einsperren lassen will.

hagalil.com 16-10-02











 

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