
Wolfgang Benz:
Was ist Anti-semitismus?
C.H. Beck Verlag 2004
Euro 19,90
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Ursachen, Funktionen und Wirkungen:
Was ist Antisemitismus?
Von Samuel Salzborn
Erschienen in:
H-Soz-u-Kult, 17.01.2005
Angesichts der spätestens mit der Paulskirchen-Rede
von Martin Walser (1998) wieder in größerem Maße zunehmenden
Bereitschaft zur öffentlichen Artikulation von antisemitischen
Ressentiments in der bundesdeutschen Gesellschaft ergibt sich die
herausgehobene wissenschaftliche und gesellschaftliche Relevanz des
Buches "Was ist Antisemitismus?" von Wolfgang Benz fast von selbst, so
dass eine explizite Betonung derselben beinahe redundant wirken könnte.
Da die antisemitischen Invektiven prominenter
Persönlichkeiten (wie etwa von Walser, Norman Finkelstein, Jürgen
Möllemann oder Martin Hohmann) aber eine nachhaltig mobilisierende und
geradezu katalytische Funktion für antisemitische Ressentiments in der
deutschen Bevölkerung gehabt haben, und insofern die Klärung der Frage,
was Antisemitismus ist, notwendig jeder Form von dessen Bekämpfung
vorausgeht, hat der Historiker und Leiter des Berliner Zentrums für
Antisemitismusforschung Benz mit seiner Darstellung in der Tat ein
eminent wichtiges Buch vorgelegt. Gerade die durch empirische Studien
jüngst nachgewiesenen Zustimmungen zu antizionistischen
Artikulationsformen des Antisemitismus belegen dies überdeutlich: mehr
als die Hälfte der Deutschen stimmt demnach dem direkten Vergleich
Israels mit dem NS-Regime zu, wobei sogar fast 70 Prozent glauben,
Israel führe einen "Vernichtungskrieg" gegen die Palästinenser.[1]
Benz will mit seiner Einführung Einsichten in Ursachen,
Funktionen und Wirkungen des Antisemitismus ermöglichen. Er
unterscheidet dabei mit dem christlichen Antijudaismus, dem
rassistischen, dem sekundären und dem antizionistischen Antisemitismus
vier Grundphänomene der Judenfeindschaft, wobei es ihm wichtig ist zu
betonen, dass sich zwar die Argumentationsweisen des Antisemitismus
unterscheiden und auch historisch wandeln, aber letztlich alle vier
Formen gleichermaßen Ausdruck des antisemitischen Ressentiments sind:
"Judenfeindschaft gilt als das älteste soziale, kulturelle, religiöse,
politische Vorurteil der Menschheit; Judenfeindschaft äußert sich, lange
bevor Diskriminierung und brachiale Gewalt das Ressentiment öffentlich
machen, in ausgrenzenden und stigmatisierenden Stereotypen, d.h. in
überlieferten Vorstellungen der Mehrheit von der Minderheit, die
unreflektiert von Generation zu Generation weitergegeben werden. Das ist
ein Argument gegen die Vermutung, es gäbe derzeit einen ‚neuen
Antisemitismus’, der sich in seinen Inhalten oder in der Radikalität vom
‚alten Antisemitismus’ unterscheide." (S. 7f.)
Benz untersucht in seiner Darstellung eine Reihe von
antisemitischen Stereotypen und Ressentiments, oft entlang der
Darstellung konkreter gesellschaftspolitischer Debatten, historischer
wie aktueller Provenienz. Dabei verknüpft er theoretische Erkenntnisse
mit historischen Fakten und empirischem Datenmaterial, was insofern
besonders bemerkenswert ist, als seine Darstellung somit eine Kritik der
Judenfeindschaft nicht nur theoretisch vornimmt, sondern überdies anhand
verschiedener antisemitischer Stereotype (beispielsweise des gegenwärtig
wieder zunehmend Relevanz entfaltenden Konstrukts einer "jüdischen
Weltverschwörung") zeigt, dass die zentrale theoretische Erkenntnis über
den Antisemitismus – das dieser seine Ursache ebenso wenig in der
jüdischen Religion wie im realen Verhalten von Jüdinnen und Juden hat,
sondern dem Wahn der Antisemit(inn)en entspringt – auch historisch
fundiert werden kann.
Die Auseinandersetzung mit empirischen Studien zum Thema
wie auch mit der Struktur aktueller Debatten führt Benz nicht nur zu der
Erkenntnis, dass "entgleisende öffentliche Solidaritätsbekundungen [..]
zum Standardrepertoire antisemitischer Skandale" (S. 11) gehören,
sondern auch, dass es fließende Übergänge vom latenten zum manifesten
Antisemitismus gibt, besonders bei der "von Rechtsradikalen offen
geäußerte(n)" und auf "konservativ-bürgerlicher Seite weithin
geteilte(n), aber so nicht ausgesprochene(n) Unterstellung, die Juden
benutzten den Holocaust zur Erpressung und Ausbeutung" (S. 119).
Insofern ist auch von einer "Brückenfunktion der Judenfeindschaft
zwischen der Mitte der Gesellschaft und dem Rechtsextremismus" (S. 116)
zu sprechen.
Besondere Hervorhebung verdient in diesem Zusammenhang
ein Abschnitt des Buches, in dem Benz sehr aufschlussreiche, in ihrer
Radikalität aber auch überaus erschreckende "Zuschriften aus dem
Publikum" an den Zentralrat der Juden als Quellenmaterial auswertet.
Dabei handelt es sich um Briefe und eMail, die im Zeitraum November 2000
bis Anfang 2003 an den Zentralrat bzw. einige seiner Repräsentant(inn)en
geschickt wurden. Am Ende eines solchen Briefes schrieb beispielsweise
eine 1937 im damaligen Königsberg geborene und heute in Braunschweig
lebende Frau, die sich ausführlich als politisch unverdächtig vorstellt,
an den Präsidenten des Zentralrates der Juden: "Ich bitte Sie inständig,
nicht dauernd durch Ihre Äußerungen und Reden uns Deutschen auf ewig ein
schlechtes Gewissen beibringen zu wollen. Denn dieses Verhalten von
Ihnen sehe ich als sehr gefährlich an; denn niemand möchte, dass die
Meinung über die Juden wieder umschlägt und die Deutschen sich nur
ausgenützt fühlen." (zit. n. S. 36) Und ein 19-Jähriger Gymnasiast, nach
eigenem Bekunden SPD-Mitglied, Christ und demokratisch orientiert,
äußerte sich per eMail folgendermaßen: "Ich fühle mich von Ihrer
Organisation ein wenig in meiner Ehre verletzt. Ich habe das Gefühl,
dass der deutsche Staat, mit seinen Mitbürgern immer noch dafür büßen
und Rechenschaft ablegen muss, was vor mehr als 50 Jahren passiert ist.
Ich verdamme alles, was in dieser Zeit geschehen ist, aber ich sehe es
nicht ein, dass ich für diese Taten in der Verantwortung stehe. Ich bin
jetzt die zweite Nachkriegsgeneration und habe nicht das geringste damit
zu tun. Außerdem bin ich schwerbehindert, wäre also sowieso im
Euthanasieprogramm untergegangen." (zit. n. S. 49)
Beide Aussagen dokumentieren ein – offenbar
generationenübergreifend wirksames – Bedürfnis nach
(Selbst)Vergewisserung der eigenen Unverdächtigkeit in Bezug auf
Antisemitismus bei gleichzeitiger Artikulation zahlreicher
antisemitischer Stereotype. Unter Wirkung der psychischen Muster von
Abwehr und Projektion werden Anspielungen und Chiffren genutzt, die in
geradezu idealtypischer Weise antisemitische Ressentiments
reproduzieren: es erfolgt der verbale Ausschluss der Minderheit aus dem
Wir-Gefühl der Mehrheit, eine Täter-Opfer-Umkehr wird verknüpft mit
einer gereizten Reaktion auf die Erwähnung von Verbrechen des
Nationalsozialismus (die oft nicht nur mit Relativierungs- und
Marginalisierungsversuchen wie bei dem zitierten Gymnasiasten
einhergeht, sondern auch mit dem Versuch der Aufrechnung), es werden
Ängste und Bedrohungsgefühle artikuliert, eine Stärkung des
Wir-Bewusstseins angestrebt und die Sicherung der Solidarität durch
Schuldzuweisung nach "Außen" erwirkt.
Damit hat Antisemitismus eine selbstbestärkende Wirkung
für die Antisemit(inn)en: "Der Antisemit weiß, was er glaubt, und nimmt
das Gegenargument als Beweis für seine Glaubensinhalte." (S. 237) Benz
formuliert deshalb auch die These, dass Antisemitismus oft "vielleicht
weniger Angriff als Verteidigung ist und Rechtfertigung gegen
befürchtete und vermutete moralische Bedrohungen des Selbstwertgefühls
und der nationalen Identität durch die Schatten der Vergangenheit, an
die Juden sowohl durch ihre Existenz als auch durch die Forderung des
Eingedenkens (die wiederum zur Selbstreflexion jüdischer Existenz in
Deutschland unabdingbar ist) mahnen." (S. 12f.) Dies verweist auf das
von Benz als "Konstruktcharakter der Judenfeindschaft" charakterisierte
Phänomen, bei dem Antisemit(inn)en "gegen imaginäre Feinde" kämpfen,
aber "wirkliche Juden als Projektionsflächen" benutzen (S. 25): "Die
Beliebigkeit des Ressentiments, das ‚den Juden’ Eigenschaften,
Absichten, Handlungen zuordnet, die mit realer jüdischer Existenz nichts
oder wenig oder nur Missverstandenes zu tun haben, ist ein wesentliches
Kennzeichen judenfeindlicher Haltung. Ein anderes ist die Verwendung von
Stereotypen, die eine Pseudorealität jüdischer Existenz zu beschreiben
und zu erklären vorgeben. Ein weiteres Charakteristikum ist die
Absurdität und Irrationalität der Zuschreibungen an die Juden.
Schließlich ist auch die hoch emotionale Einstellung zu Juden ein
wesentliches Merkmal des Antisemitismus." (S. 234)
Antisemitische Ablehnung gründet sich dabei nicht auf
Fakten, sondern auf Traditionen und Emotionen, die als Fakten
unterstellt werden, weshalb Benz auch völlig zu Recht betont, dass sich
Judenfeindschaft grundsätzlich jeder rationalen Diskussion entzieht, da
Antisemitismus als "hermetisches System" (S. 236) funktioniert:
"Antisemitismus ist deshalb auch weitgehend gegen Aufklärung resistent.
Diese Feststellung ist kein Plädoyer zur Resignation, vielmehr zur
Prävention und Prophylaxe." (S. 10)
Aus sozialwissenschaftlicher Perspektive ist das Buch
von Benz deshalb so bemerkenswert gut, weil es profunde historische
Kenntnisse mit sozialwissenschaftlichen Erklärungsansätzen verknüpft und
insofern praktisch eine Interdisziplinarität am Gegenstand der
Antisemitismusforschung umsetzt, die vielerorten vollmundig proklamiert,
aber nur selten wirklich realisiert wird. Die Einordnung von
Antisemitismus als irrationales Gefühl, als – wie Theodor W. Adorno es
nannte – "Gerücht über die Juden" [2], wirft jedoch die Frage auf, ob
die von Benz ebenfalls vorgenommene Klassifizierung des Antisemitismus
als Vorurteil tatsächlich treffend ist. Denn ungeachtet der
wissenschaftlichen Ausdifferenzierung der Vorurteilsforschung legt die
Verwendung des Begriffs "Vorurteil" die Vermutung nahe, es handele sich
bei dem in Rede stehenden um etwas Ungeprüftes, das durch Informationen
revidierbar wäre. Da auch Benz um die weitgehende Aufklärungsresistenz
von Antisemit(inn)en weiß, läge alternativ die Stärkung
psychoanalytischer Erklärungsansätze nahe. Benz spricht Psychologie und
Psychoanalyse als für die Antisemitismusforschung wichtige
Erklärungsansätze zwar an, jedoch werden die im gesamten Buch verstreut
verwendeten psychoanalytischen Kategorien bedauerlicherweise nicht
weiter in einen theoretischen Kontext eingeordnet. Denn würden
psychische Mechanismen wie insbesondere Projektion, Abwehr und
Verdrängung als Grundstrukturen des Antisemitismus systematisch in Bezug
zueinander gesetzt, würde dies auch einen breiteren
Interpretationsrahmen für die emotional-irrationale, wahnhafte Struktur
des Antisemitismus eröffnen.
Anmerkung:
[1] Vgl. Heyder, Aribert ; Iser, Julia; Schmidt,
Peter, Israelkritik oder Antisemitismus? Meinungsbildung zwischen
Öffentlichkeit, Medien und Tabus, in: Heitmeyer, Wilhelm (Hg.): Deutsche
Zustände. Folge 3, Frankfurt am Main 2005, S. 144ff. [2] Adorno, Theodor
W., Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, in: Ders.:
Gesammelte Schriften Bd. 4 (herausgegeben von Rolf Tiedemann), Frankfurt
am Main 1980, S. 123.
hagalil.com
28-02-05 |