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Frank Stern: Dann bin ich um den Schlaf gebracht. Ein Jahrtausend jüdisch-deutsche Kulturgeschichte.
Aufbau Verlag, Berlin 2002
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"Dann bin ich um den Schlaf gebracht":
Ein Jahrtausend jüdisch-deutsche Kulturgeschichte

Von Andrea Übelhack

Kein anderer hat die innere Zerrissenheit und das Auf und Ab jüdisch-deutscher Erfahrung prägnanter formuliert als Heinrich Heine in seinen berühmten "Nachtgedanken": "Denk ich an Deutschland in der Nacht, Dann bin ich um den Schlaf gebracht, Ich kann nicht mehr die Augen schließen, Und meine heißen Tränen fließen." Die zweite Zeile lieh sich Frank Stern als Titel für seine jüdisch-deutsche Kulturgeschichte aus. Der an der Ben-Gurion-Universität in Beersheva lehrende Historiker legt damit einen Streifzug durch ein Jahrtausend deutsch-jüdischer Geschichte vor, deren "Jahrhunderte eine kulturelle, soziale, intellektuelle, künstlerische und ästhetische Fundgrube (sind,) nicht allein für das Verständnis der Vergangenheit, sondern auch im Hinblick auf eine sich neu entfaltende deutsch-jüdische Gegenwart."

Im Gegensatz zu den meisten Versuchen, deutsch-jüdische Geschichte zu erklären, meidet Frank Stern Begriffe wie "Assimilation" und "Symbiose". Es gehe vielmehr um die "Wechselwirkung zwischen Juden und Nichtjuden im kulturellen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen Leben, aber auch im kulturellen Zusammenhang von gesprochener Umgangssprache und Schriftsprache, von Manuskript- und Buchkultur, die durch die Jahrhunderte existierte." Das Buch befaßt sich mit deutsch-jüdischer Erfahrung, also mit Erfahrung von Juden in Deutschland und den Erfahrung mit Juden in Deutschland.

Da Frank Stern Klischees und Schablonen-Denken von jüdischem Leben ebenso meiden möchte, grenzt er die drei klassischen Herangehensweisen an deutsch-jüdische Geschichte, Antisemitismus, osteuropäisches Judentum und Zionismus, weitgehend aus. Im Zentrum stehen vielmehr die jüdischen Stimmen selbst, da der Autor die Geschichte nicht vom Rand betrachtend schreiben möchte, sondern aus der Mitte der Gesellschaft heraus. Es geht nicht um den Beitrag von Juden zur deutschen Kultur, sondern um ihre integrierte Teilhabe mit Blick in unsere eigene Zukunft: "Eine zeitgemäße Darstellung deutsch-jüdischer Erfahrungen kann durch die aktuelle Bedeutung kultureller Zusammenhänge, Beziehungen und Entwicklungen in Deutschland und anderen europäischen Staaten Perspektiven gewinnen."

Tatsächlich sind es im wahrsten Sinn des Wortes Stimmen, die Frank Stern zu Wort kommen läßt. Anhand von einzelnen Persönlichkeiten rollt er die gemeinsame Kulturgeschichte auf. Dabei dient ihm etwa Süßkind von Trimberg als Aufhänger. Dieser jüdischen Minnesänger,  über den nur wenig bekannt ist, lebte in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts, ein Zeitalter, das Stern nicht als "eng, dunkel und rückständig, wie diese Epoche oft beschrieben wird" sieht, sondern von immenser sprachlicher und kultureller Entwicklung geprägt. Die Entwicklungslinien zeigt Stern anhand der Rezeption des Minnesängers und beginnt damit seinen Überblick der deutsch-jüdischen Kulturgeschichte bewußt nicht mit Moses Mendelssohn.

Der Streifzug durch die Jahrhundert zeigt allerlei Kurioses, wie beispielsweise im Kapitel, das die sprachliche Entwicklung des Jüdisch-Deutschen untersucht und dabei auch von hebräischen Liedern, die nach Melodien deutscher Trinklieder gesungen und von unkoscheren Textstellen gesäubert wurden berichtet. Gerade die überlieferten Lieder zeigen das "Wechselbad der deutsch-jüdischen Geschichte" besonders deutlich.

Erwähnung finden selbstverständlich auch bekannte Persönlichkeiten der deutsch-jüdischen Kulturgeschichte, von Glückel von Hameln über den Maler Moritz Daniel Oppenheim bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts, für dessen Neuerungen die Erinnerung von Gershom Scholem steht, der unter dem Weihnachtsbaum der Eltern ein Herzl-Bild vorfand. Die 10er und 20er Jahren zeichnet Stern als Blütezeit, die vor allem von deutsch-jüdischem Schreiben geprägt ist, aber auch, "aufgrund des wachsenden Zustroms polnischer und russischer Juden, auch des Jiddischen, des Hebräischen und der visuellen Interpretation religiöser jüdischer Traditionen, die als hebräische Mythologien, Romane und Filmerzählungen in die Populärkultur Eingang fanden." Daneben zeigt Stern jedoch auch wie deutschen Debatten der Zeit, rassisches Gedankengut, Jugendbewegung, Wandervereine Eingang in die jüdische Erfahrung fanden.

Besonders gelungen ist der Teil, den Stern der Nachkriegszeit und jüngsten Entwicklung des deutschen Judentums widmet. Neben einzelnen Persönlichkeiten wie dem Phänomene Hans Rosenthal stellt er scharfsinnig das Dilemma der deutsch-jüdischen Identität fest. Während einerseits viele deutsche Juden von der philosemitischen Umarmung wenig angetan sind, wurde Religion wieder zur Privatsache. Problematisch daran ist, daß der Eindruck entsteht, "daß das jüdische Leben in Deutschland ausschließlich das religiöse, soziale und kulturelle Leben der in Gemeinden registrierten Mitglieder sei, als ob deutsche Juden per nichtjüdischer Verordnung alle eine religiöse Affinität haben müßten." Der Zentralratsvorsitzender wird zu einer Art "Judenbischof" und sowohl in der Wahrnehmung als auch in Form von Zahlen auf Papier existiert quasi kein Leben außerhalb der Gemeinden. "Die immens reiche, vielschichtige und das gesamte geistige, politische, religiöse und säkulare Spektrum der deutschen Gesellschaft umfassende deutsch-jüdische Erfahrung vor 1933 wird auf eine institutionelle Zuordnung reduziert."

Frank Sterns Kulturgeschichte schafft insgesamt einen kurzweiligen und sehr gelungenen Überblick zur deutsch-jüdischen Erfahrung, der den Finger einerseits auf die weniger bekannten Details legt, andererseits aber die großen Entwicklungslinien nicht aus den Augen verliert. Erfreulich ist dabei vor allem er Anspruch des Autors, diese Linien bis in unsere Gegenwart zu ziehen: "Kein Josel ohne Süßkind, kein Marx ohne Börne, keine Bertha Pappenheim ohne Glückel von Hameln, kein Feuchtwanger ohne Rathenau, keine Charlotte Salomon ohne Herbert Baum, kein Hans Rosenthal ohne Jeanette Wolff, und diese Reihe reicht weiter bis ins 21. Jahrhundert."

hagalil.com 22-08-02











 

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