Lenka Reinerová:
Närrisches Prag
Aufbau Verlag 2005
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Mandelduft |
Masal
tow:
Lenka
Reinerová wird 90
Lenka Reinerová, die große Dame der deutschsprachigen
jüdisch-tschechischen Literatur, wird am 17. Mai 90 Jahre alt.
1916 in Prag geboren, arbeitete sie seit 1936 als Journalistin für die
Arbeiter-Illustrierte Zeitung. 1938 floh sie nach Frankreich, wo sie wie
viele Emigranten interniert wurde. Über Marokko entkam sie nach Mexiko.
Nach Kriegsende kehrte sie mit ihrem Mann, dem Schriftsteller und Arzt
Theodor Balk, nach Europa zurück, lebte in Belgrad und seit 1948 wieder in
Prag. 1952 wurde sie Opfer der stalinistischen Säuberungen, verbrachte 15
Monate in Untersuchungshaft, wurde danach mit ihrer Familie in die Provinz
abgeschoben und erst 1964 rehabilitiert.
Nach dem Ende des Prager Frühlings erhielt sie Publikationsverbot, wurde aus
der Partei ausgeschlossen und verlor ihre Arbeit in einem Verlag.
Lenka Reinerová lebt heute wieder in Prag.
"Ich halte mich vornehmlich für eine Erzählerin, einfach aus dem Grund, weil
ich gar nicht das Anliegen habe, mir eine Geschichte von A-Z auszudenken.
Das hängt zweifellos damit zusammen, dass mein Leben so vielgestaltig war
und ist, und dass ich einen großen Vorrat an Themen habe. Und diese
Lebenserfahrungen, die nicht immer schön waren, aber die auch schön waren,
die nicht immer sehr dramatisch, aber auch dramatisch waren – also wenn ich
da in meinen Vorrat greife, dann muss ich mir nicht extra was ausdenken. Es
reicht, wenn ich das erzählen kann."
Lenka Reinerová liest am 1. Juni aus ihrem neuen Buch "Närrisches Prag" im
Vortragssaal der Bibliothek im Gasteig, München (20 Uhr).
Hier
eine kleine Kostprobe:
"In
der kurzen Straße, die geradewegs vor das Altstädter Rathaus führt und
Melantrichgasse heißt, und wohl stets so hieß, was von vielen anderen
bekanntlich nicht gesagt werden kann, gab es in meinen jungen Jahren einen
Anziehungspunkt, dem ich nur selten widerstehen konnte, der mich im
Gegenteil sehr oft gerade hierher steuerte. Auf dem Gehsteig vor den
respektablen Häusern saßen da auf niedrigen Schemeln oder auf nur auf
umgestülpten Eimern ein oder zwei Frauen. Sie waren zumeist in dunkle Tücher
gehüllt, und vor jeder stand ein mittelgroßes Fass, aus dem es schon von
weitem verführerisch sauer-süß duftete. Schnell gegorene Gurken! In der
kurzen Zeit, in der sie auch in verschiedenen andren Straßen der Stadt, für
mich jedoch vor allem in der Altstädter Melantrichgasse, angeboten wurden,
führten alle meine Wege durch Prag, wohin auch immer sie ausgerichtet waren,
mit Sicherheit gerade hierher. Man durfte mit einer Holzzange selbst in dem
Bottich fischen, ein größeres oder kleineres Stück wählen, wurde auf Wunsch
mit einem Blatt festen Papiers ausgestattet, zahle einen lächerlichen Preis
und ging schmatzend und schlurfend mit dem sauer-süßen Leckerbissen in der
Hand weiter. Auf besondere Weise erfrischt und für den Rest des Tages auch
gut gestimmt. Ich weiß nicht, ob die sorgfältig und sachkundig eingelegten
Gurken eine solche Wirkung erzielen konnten oder ob der kleine Ausreißer aus
dem städtischen Getriebe in die dörfliche Tradition die gute Laune
hervorrief. Mir erging es jedenfalls so, und schon allein das machte die
Melantrichgasse zu einer meiner Lieblingsstraßen.
War es ein Zufall, dass ich mit neunzehn Jahren meine erste selbständige
Behausung nach längeren vergeblichen Suchen gerade hier fand? Oder hat es
schon damals ein guter Hausengel für mich so eingerichtet? Wie auch immer:
Bis zur Okkupation der Tschechoslowakei durch Hitlerdeutschland und zu
meiner dann unerlässlich gewordenen Flucht aus Prag lebte ich in der
"Melantriska", und auf dem Gehsteig gegenüber meinem Wohnhaus ließen sich in
den späten Sommerwochen regelmäßig die Frauen mit ihren Gurkenfässern
nieder. Auf diese Weise wurden sie zu meinen stets freudig erwarteten
zeitweisen Nachbarinnen.
Dann rollten die Kriegsjahre über uns hinweg, und nach meiner Rückkehr aus
dem Exil verschlug es mich, wie schon gesagt, an ein anderes Ende von Prag.
Auch die sauer-süßen Gurken ließen sich nicht mehr an ihrem alten Stammplatz
sehen. Um die nächste Ecke gibt es jetzt nämlich einen überschwänglich gut
versorgten Gemüsemarkt. Ich habe nicht nachgeforscht, ob die
Schnellgegorenen dort für ihre kurze Saison unter den ungezählten
einheimischen, aber auch exotischen Gaben der Natur eine
Aufenthaltsbewilligung erhalten haben. Tempora mutantur!"
Audio-Tipp:
Mandelduft. CD . Ausgewählte Erzählungen. Autorenlesung
hagalil.com
16-05-06 |