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Margarete Susman und ihr jüdischer Beitrag zur politischen Philosophie

Die Wiederentdeckung einer kontroversen jüdischen Denkerin…

Margarete Susman (1872–1966) gehört zu den großen Vordenkern der jüdischen Renaissance im frühen 20. Jahrhundert. Ihre Auseinandersetzung mit dem Judentum richtet sich vor allem auch auf die Bedeutung, die Religion für die Politik haben kann.

Die Rabbinerin Elisa Klapheck bietet mit diesem Buch eine erstmalige, umfassende Auseinandersetzung mit dem Gesamtwerk Susmans. Dabei zeichnet sie die geistige Biographie einer zu Unrecht vergessenen religiösen Denkerin und Philosophin nach, die in einer Reihe mit ihren Freunden Georg Simmel, Martin Buber, Gustav Landauer, Ernst Bloch, Franz Rosenzweig oder Paul Celan zu nennen ist. Susmans Gedanken zur geistigen Bedeutung des Judentums für Europa, über die Revolution, die Frauenemanzipation, das Verhältnis von Religion und Staat und nicht zuletzt über die Beziehung zwischen Judentum und Christentum enthalten wichtige Anstöße für aktuelle Diskussionen.

Elisa Klapheck: Margarete Susman und ihr jüdischer Beitrag zur politischen Philosophie, 408 S., 25 Abb., Hardcover, Hentrich & Hentrich Verlag Berlin 2014, Euro 35,00, Bestellen?

Buchvorstellung:
13.05.2014 19:00 Jüdische Volkshochschule, Berlin
Mit Elisa Klapheck, Begrüßung: Dr. Nora Pester, Verlegerin
Veranstaltungsort: Jüdische Volkshochschule im Gemeindehaus Fasanenstraße, Fasanenstraße 79/80, 10623 Berlin
Eintritt: EUR 5,00 / 3,00

LESEPROBE

Vorwort

Aus den Werken der Philosophin Margarete Susman (1872 – 1966) spricht ein besonderes religiöses Verstehen der politischen Gegenwart. Im frühen 20. Jahrhundert gehörte sie zu den zeitgeistprägenden Publizisten, die geistig das Feld einer „Jüdischen Renaissance“ sowie das eines religiös-revolutionär motivierten Sozialismus erschlossen. In diesen Zusammenhängen müsste Susmans Name ebenso selbstverständlich fallen wie der ihrer nahen Freunde: Ernst Bloch, Gustav Landauer, Martin Buber oder Franz Rosenzweig. Susman nahm nicht nur meinungsbildend an den damaligen religionsphilosophischen und politischen Diskursen teil. Ihr Werk steht auch für eine eigene Ausrichtung in diesen Kreisen – für ein politisches Judentum in Deutschland, das selbstbewusst auf seine jüdisch-religiösen Ursprünge verweist. Gegenüber den beiden anderen politischen Wegen, die Juden damals einschlugen – dem säkularen Engagement in liberalen und sozialistischen Richtungen oder aber dem auf die Schaffung einer jüdischen Heimstätte in Palästina hin ausgerichteten Zionismus – bildete die von Susman vertretene Vorstellung vom Judentum ein kontrapunktisches Gegengewicht. Dieses Judentum meinte Deutschland und damit zugleich eine Umgestaltung der deutschen Gesellschaft.

Dass mit Susman wieder einmal eine bedeutende Frau in Vergessenheit geraten ist, liegt sicherlich auch an ihrer speziellen, auf Deutschland ausgerichteten religiös-politischen Motivation, die nach der Schoa kein Verständnis mehr fand. Wie weit die Verdrängung ihres Namens geht, lässt sich beispielsweise anhand der Rezeption von Gershom Scholems berühmten Brief Wider den Mythos des deutsch-jüdischen Gesprächs erkennen, in der so gut wie nie erwähnt wird, dass sich Scholems Brief explizit gegen Margarete Susman richtete.1 Ein weiterer Grund für die Nichtrezeption Susmans ist die Komplexität ihres 17 Bücher und rund 250 Veröffentlichungen in Zeitungen und anderen Publikationsforen umfassenden Werkes. Zugegeben – bei Susmans thematischer Aufgeschlossenheit auf vielfältigen Feldern bieten sich verschiedene geistige Linien und Schwerpunkte an, anhand derer man ihr geistiges Schaffen nachzeichnen könnte: Susman als Lyrikerin und als philosophische Essayistin, Susman im Zentrum einer künstlerischen und schriftstellerischen Avantgarde, Susman als Frau in einer frauenbewegten Zeit, oder Susman als religiöse Denkerin im Angesicht von Krieg und Revolution. In der vorliegenden Arbeit vertrete ich jedoch die Auffassung, dass es in Susmans Werk trotz der Themenvielfalt eine geistige Hauptlinie gibt – und dass sich anhand dieser Linie die verschiedenen Felder, auf denen sich Susman bewegte – Lyrik und Politik, Kunst und Literatur, Philosophie und Religion – einander zuordnen. Diese Linie ist Susmans Auseinandersetzung mit dem Judentum.

Publizistisch nimmt sie ihren Anfang mit Susmans erstem, 1907 erschienenem Artikel in der Frankfurter Zeitung unter dem Titel Judentum und Kultur. Im weiteren Verlauf folgt auf dieser Linie ein erster Höhepunkt mit Susmans philosophischem Debut im Kreise der Bewegung der „Jüdischen Renaissance“ – einer Abhandlung über Spinoza, die Susman 1913 in Vom Judentum, dem berühmten Sammelband der Prager Studentenvereinigung „Bar Kochba“ veröffentlichte. Susman versuchte darin, ein säkulares, jüdisches „Weltgefühl“ zu bestimmen, das sich aufs Neue mit der jüdischen Gesetzestradition verbindet. In den nachfolgenden Jahren veröffentlichte Susman eine Vielzahl von Artikeln und großen Aufsätzen, in denen sie die tiefere Bedeutung des Judentums für Europa deutet. Ihre Auseinandersetzung endet nicht mit der Schoa, sondern kulminiert in Susmans bekanntestem Werk – dem 1946 erschienenen Das Buch Hiob und das Schicksal des jüdischen Volkes. Darin leistet Susman eine erste Theodizee des Geschehenen und bekräftigte noch einmal die Unabdingbarkeit einer jüdischen Mitgestaltung Europas.

Diese Arbeit habe ich auch als Rabbinerin mit einem besonderen Bewusstsein für die politische Dimension des Judentums geschrieben. Zu dieser gehörte stets die Fähigkeit zur inneren Erneuerung, um die Katastrophen in der jüdischen Geschichte zu überleben und mit einer neuen Perspektive die Gegenwart zu gestalten. Eine solche Perspektive versuchte auch Susman zu schaffen. Diese war allerdings schon lange vor der Schoa von ihr selbst geebnet worden. Die vorliegende Arbeit wird darum Susmans Gesamtwerk entlang ihrer Auseinandersetzung mit dem Judentum aufschlüsseln, dabei zugleich aber die parallel erschienenen Veröffentlichungen Susmans zu den anderen, ebenfalls Susmans geistiges Profil bestimmenden Themen würdigen – neben den zwei erfolgreichen Büchern über die Lyrik und über die Liebe, Susmans Zeitungskommentare zum (Ersten) Weltkrieg sowie ihre Essays über den Staat, die Nation, die Revolution, die geistige Emanzipation der Frau, den Sozialismus und Anarchismus, die Freiheit und nicht zuletzt das Christentum.

Mit der Entscheidung, das Werk Susmans im Lichte seiner jüdischen Linie zu behandeln, widerspreche ich zugleich einer in der Susman-Forschung verbreiteten Ansicht, wonach das Besondere von Susmans Werk gerade im Fehlen einer zusammenhängenden Linie und stringenten Systematik zu sehen sei. Susmans bewusster Verzicht auf ein geschlossenes System habe, so diese Ansicht, erst einem für sie typischen dialogischen Denken Raum geben können. Ohne den geistigen Dialog, in dem Susmans Schriften zweifelsohne zu lesen sind, mindern zu wollen, vertrete ich die Auffassung, dass ein Verkennen des jüdischen Anliegens als dem gestaltenden Prinzip in Susmans geistiger Produktion zu einer Verzeichnung führt und Susmans Bedeutung gerade auch für die Gegenwart nicht gerecht zu werden vermag.

Zwei Stadien prägten die bisherige Susman-Rezeption. Seit den 1950er Jahren waren es vor allem Manfred Schlösser, Walter Nigg, Hermann Levin Goldschmidt und Michael Landmann, die Susmans Bedeutung einem größeren Publikum bewusst zu machen versuchten. Ihre Sicht hebt die religiöse Grundierung in Susmans Werk hervor, schafft aber ein zu sehr zum Christentum hin tendierendes Bild.  Entsprechend kann darin Susmans Anliegen eines religiös motivierten, politischen Judentums keine Kontur gewinnen.

In den 1990er Jahren gaben Ingeborg Nordmann und Barbara Hahn entscheidende Anstöße für eine zweite Susman-Rezeption, nunmehr im Zeichen der feministischen Frauenforschung. Diese lässt sich wiederum kaum auf die religiösen Aspekte in Susmans Werk ein, wodurch auch hier die politische Dimension des Judentums nur schemenhaft angedeutet werden kann. Vor allem Nordmann unterstreicht Susmans Distanz zur institutionalisierten jüdischen Religion und betont ihren individuellen Zugang, der auf diese Weise aber unpolitisch, wenn nicht sogar ohnmächtig bleiben muss.

Tatsächlich knüpfte sich Susmans Deutung des Judentums an eine religiöse Erneuerung, die zunächst der Einzelne bei sich selbst zu leisten hat. Sie reichte bei ihr jedoch stets vom einzelnen Individuum hinaus in die Gestaltung eines Kollektiven – „Israel“, das „jüdische Volk“, die „Gemeinschaft“, die „Menschheit“. Diese Bewegung – vom religiösen Erleben des einzelnen Menschen aus hin zur Bildung eines größeren kollektiven Zusammenhangs – hat bereits eine politische Qualität. Bei Susman verbindet sie sich darüber hinausgehend mit dem expliziten Ziel, im Wege der Politik die Wirklichkeit umzugestalten.

Dass die religiös-politische Dimension in Susmans Werk bislang unterbelichtet geblieben ist, liegt allerdings auch an einem semantischen Problem, mit dem die jüdische Tradition bis heute zu kämpfen hat. All ihre religiösen Begriffe werden von Vorstellungen der christlich geprägten Mehrheitsgesellschaft überdeckt. Hinzu kommt der Reflex der Generationen nach Mendelssohn, stets ihre Zugehörigkeit zu Deutschland unter Beweis zu stellen. Erst die Generation der Jüdischen Renaissance pochte auf ein eigenständiges politisches Potential des Judentums. In diesem Umfeld wirkte auch Susman als freischaffende Publizistin. Das Besondere bei ihr ist, wie sie vom „göttlichen Gesetz“ die politische Qualität der jüdischen Tradition herleitet. Dieses legte sie weder partikularistisch zur Abgrenzung der Juden von den anderen Völkern aus, noch unmittelbar universalistisch, was eine grundsätzliche Relativierung des Gesetzes bedeutet hätte. Anders und doch ähnlich wie Hannah Arendt forderte Susman von den deutschen Juden politischer zu werden, sich als Juden auf das politische Geschehen einzulassen und dieses mitzugestalten.

Erst in jüngster Zeit ist die Bedeutung der politischen Tradition des Judentums für die europäische Geistesgeschichte im Allgemeinen und für die politische Theorie im Besonderen erkannt worden. In der Forschung werden seitdem die traditionsbildenden jüdischen Quellen, vor allem die des rabbinischen Schrifttums der Spätantike auf ihre in die heutige Zeit auswirkenden, gesellschaftspolitischen Gehalte hin neu gelesen. Mittlerweile bildet diese neue Richtung einen eigenen akademischen Schwerpunkt. Einer der herausragenden Namen auf diesem Gebiet ist Jacob Neusner. In gewisser Weise setzt er das Projekt der Jüdischen Renaissance fort, allerdings in einem ausschließlich akademischen Rahmen. Gleichwohl spiegeln sich oftmals in seinen Analysen Deutungsmuster von Franz Rosenzweig wider, dem großen Vordenker der Jüdischen Renaissance. Diese Deutungsmuster sind wiederum innerlich mit Susmans politischer Deutung des Judentums verwandt. Um den jüdisch-politischen Bogen aufzuzeigen, der sich durch Susmans Werk spannt, werde ich darum Susmans Schriften auch im Lichte der neuen Erkenntnisse über das traditionsbildende, rabbinische Schrifttum lesen – neben Neusners Analysen unter anderem auch die von Michael Walzer oder David Novak.

Das erste Kapitel beleuchtet zunächst biblische und rabbinische Grundlagen der politischen Tradition des Judentums, um dann Susmans Religionsphilosophie in eben diese Tradition stellen zu können. Es zeigt auf, dass das rabbinische Judentum der Antike zwischen einer kultischen und einer staatspolitischen Sphäre unterschied. Ein besonderer Fokus gilt dabei dem rabbinischen „Drei-Kronen-Modell“ – einer Gewaltenteilung, die schon in der Antike intellektuellen Juden eine eigene religiös-politische Autorität zumisst. Das Kapitel wird ferner zeigen, dass sich die politische Tradition des Judentums nicht notwendig allein auf das „Land Israel“ beschränkt, sondern mit einer „menschheitlichen“ Teleologie auch eine Allianz mit anderen Völkern und ihren Gesetzen eingehen kann. Das Kapitel mündet in eine Positionierung der Generation der Jüdischen Renaissance, vor allem einer Positionierung Margarete Susmans.

Susmans Leben erstreckte sich über die Zeitspannen des Kaiserreiches, der Weimarer Republik, des NS-Regimes, das sie im Exil in der Schweiz überlebte, und der Zeit nach der Schoa. Das zweite und dritte Kapitel werden den biographischen Rahmen nacherzählen, in dem sich Susmans Fragestellungen herausbildeten. Sie werden auf ihr akkulturiertes deutsch-jüdisches Elternhaus eingehen, auf ihre frühe Schaffensphase als Dichterin, auf ihre geistigen Vorprägungen in der deutschen Kultur, ihre Verbindungen zu den Kreisen um Stefan George und Georg Simmel und auf eine sich ihren Weg suchende Religiosität, die sich in der Spannung zwischen Kulturchristentum und Atheismus unverhofft beim Judentum wiederfindet. Von dorther vermochte Susman die für sie zuvor kaum aussprechbare Frage nach „Gott“ neu, das heißt aus einem modernen, jedoch spätestens mit dem Ersten Weltkrieg erschüttertem Lebensgefühl herauszustellen.

Noch vor dem Ersten Weltkrieg veröffentlichte sie den in dieser Hinsicht wegweisenden Aufsatz Spinoza und das jüdische Weltgefühl. Ihm gilt das dritte Kapitel. Mit Spinoza begann Susmans Fokussierung auf das „göttliche Gesetz“, das sie nicht repressiv verstehen wollte, sondern als emanzipatorisches Vehikel zur Befreiung von Unmündigkeit, Unterdrückung und Verfestigungen. Mit Spinoza als Ausgangspunkt erschloss Susman eine religiös-säkulare Doppelbahn jüdischen Gesetzesdenkens – das heißt: eine Beziehung zum „Gesetz Gottes“, die das Diesseits und das Jenseits nicht gegeneinander ausspielt und im Wege der Gesetzeserkenntnis politische Freiheit erwirken will. Im Lichte des rabbinischen Schrifttums, aber auch der heutigen Spinoza-Rezeption, vor allem der von Yirmiyahu Yovel, wird sich zeigen, dass „säkular“ nicht in Opposition zu „religiös“ verstanden zu werden braucht – dass das Gegenteil von „säkular“ nicht „religiös“, sondern „theokratisch“ ist. Entsprechend ist auch Susmans politisches Verständnis der jüdischen Tradition kein theokratisches, das die Macht der institutionalisierten Religion mit ihren Dogmen zu festigen sucht, sondern ein religiös-säkulares, das danach strebt, sich unter freiheitlichen Bedingungen im politischen Geschehen zu verwirklichen.

Das fünfte Kapitel wird anhand von Susmans Beziehung zu ihrem Freund Gustav Landauer nachzeichnen, wie sich dieses religiös-säkulare Verständnis zu den politischen Entwicklungen in Deutschland verhielt. Wie bei anderen jüdischen Intellektuellen spricht auch aus Susmans Schriften eine messianische Motivation – übersetzt in säkular-utopische Weltanschauungen. Hierzu gehört auch ihr Eintreten für die Novemberrevolution von 1918, deren religiösen Anteil Susman in den biblischen Prophetenbüchern, insbesondere im jüdischen Konzept der Sühne, der Teschuwa, begründet sah. Teschwua hieß für Susman, die gegenwärtige Welt von einer in der Zukunft gelegenen Erlösung her umzuwandeln. Aus der Zukunft wirkt das göttliche Gesetz revolutionär in die Gegenwart hinein. Susmans erneuertes Bekenntnis zum „Gesetz“ meinte durchaus die „Tora“ – eine Tora jedoch, die als das Gesetz vor den Gesetzen in jedem Zeitalter mit Hilfe eines religiösen Offenbarungsmodus neu erworben werden muss, um die jüdische Tradition in ein aktives Verhältnis zum politischen Geschehen zu stellen.

Das sechste Kapitel setzt die religiös-säkulare Doppelbahn Susmans fort, auf der nunmehr die Revolution, die geistige Emanzipation der Frau, ja selbst das Christentum ihren höchsten Sinn finden, indem sie sich mit dem erneuerten jüdischen Gesetzesbegriff verbinden. Gerade Susmans Schriften über die Revolution der Frau bilden eine chiffrierte Kritik gegen bestimmte Vorstellungen von Christentum. Wenn in Susmans Deutung erst ein jüdisches Gesetzesdenken die geistige Emanzipation der Frau von a-politischer Passivität befreit, spricht daraus zugleich auch eine mit den Mitteln des Judentums mögliche Emanzipation von obrigkeitshörigen Strukturen, die von eben diesen Vorstellungen von Christentum unterbaut worden waren. Zu Georg Simmels Essays über weibliche Kultur sowie Ernst Bloch christlich inspirierten Ausführungen zur Geschlechterthematik setzten Susmans Schriften einen jüdischen Kontrapunkt. Dieser korrespondierte, wie das sechste Kapitel und der Exkurs „Weibliche Bewusstseinsmodi“ zeigen werden, mit einem rabbinisch-talmudischen Verständnis von „weiblich“ und „männlich“. Susmans Schriften zur Geschlechterthematik sind dabei aber auch vor dem Hintergrund der „konservativen Revolution“ und dem heraufziehenden nationalsozialistischen Unheil zu lesen. Einer männlichen Verhaftung an irrationale mythische Mächte hielt sie ein im Zeichen wahrer „Männlichkeit“ stehendes jüdisches Gesetzesdenken entgegen.

Susmans Verständnis vom Gesetz Gottes eröffnete eine jüdische Perspektive für Deutschland, die auch von Nichtjuden eingenommen werden konnte. Gerade Susmans Vorstellung von einer religiösen Erneuerung erlaubte den Anderen, den Nichtjuden, sogar den Christen, in einem „jüdischen“ Sinn „politisch“ zu sein, beziehungsweise in einem politischen Sinn Jude zu sein, ohne deshalb formal Jude werden zu müssen. Der Sinn des Gesetzes war bei ihr nicht notwendig, sich von der nicht-jüdischen Welt abzugrenzen. Es sollte sich vielmehr auf diese richten, ja sie sogar umgestalten. Im Einklang mit der  rabbinischen Sicht, auf die das siebente Kapitel ausführlich eingehen wird, entfaltete Susman eine Theorie des Gesetzes, in der alles Geschehen, ja die ganze Schöpfung, in einer grundsätzlichen Spannung zur Erlösung lebt. Die Spannung löst sich allein durch aktives Wandeln. Sinn des Gesetz Gottes ist das auf die Erlösung oder Befreiung hin ausgerichtete Wandeln. Den Modus, der das Gesetz in der Geschichte immer wieder neu offenbart, sah Susman mit dem „Höre, Israel!“ gegeben – einem Modus, der half, sich aus aller Gestalt herauszulösen und der mit der jüdischen Erfahrung des Exils korrespondierte. In kritischer Auseinandersetzung mit Franz Rosenzweig verdichtete Susman das jüdische Lebensgefühl des Anderssein, des Exils, der messianischen Hoffnung und des auf sie bezogenen Gesetzesdenkens zu einer menschheitlichen Perspektive.

Vor der NS-Zeit präsentierte Susman diese Perspektive als religiöses Moment des Widerstands und als Voraussetzung für die politische Verwirklichung von Freiheit und Gerechtigkeit. Nach der NS-Zeit blieb von dieser Perspektive die kaum noch stellbare Frage, ob das jüdische Ferment im politischen Selbstverständnis Europas immer noch Bestand haben kann. Susmans Leben und Denken schienen auch in ihren letzten Lebensjahrzehnten in der Schweiz, im Kreise des Religiösen Sozialismus um Leonhard Ragaz, diese Frage zu bejahen. Doch nach 1945 erforderte dieses Ja, das zugleich an einer jüdischen Bestimmung unter den Völkern festhielt, eine Theodizee des Geschehenen, die über den Abgrund hinausgeht. Ihr wendet sich das als „Ausblick“ verfasste letzte Kapitel zu. Susman leistete die Theodizee anhand ihrer Auseinandersetzung mit Kafka und dem biblischen Hiob sowie einem bis zu ihrem eigenen Tod ausgetragenen Ringen mit Gott – dem Gott, der die Katastrophe der europäischen Juden nicht verhindert hat. Aus heutiger Sicht ist es vor allem Susmans Theodizee, die Unbehagen hervorruft.

Gleichwohl bleibt ihr Werk fruchtbar für die Gegenwart, in der erneut über den inneren Zusammenhang zwischen Religion und Politik nachgedacht wird. Susmans Denken hat hierzu einen eigenen Beitrag geleistet. Er benennt mit Hilfe der politischen Tradition des Judentums eine religiöse Dimension im politischen Geschehen. Politik und Religion kommen dabei zu keiner theokratischen Deckung. Vielmehr konkretisiert sich das Gesetz Gottes nur als ein Anteil an den säkularen Gesetzen – der Anteil, der Sühne verwirklicht. Sühne, von Susman nicht christlich als „Strafe“ verstanden, sondern jüdisch: als ein läuterndes Wandeln der politischen Gegenwart vom Maßstab der Zukunft her.

Nach fast sieben Jahrzehnten, in denen die Trauer um die ermordeten europäischen Juden alle Auseinandersetzungen mit der jüdischen Tradition in Europa beherrschte, ist vielleicht die Zeit gekommen, an den einstigen Vorschlägen, die Menschen wie Margarete Susman für die Herausforderungen ihrer Gegenwart machten, doch wieder anzuknüpfen – einfach weil sie auch über die Katastrophe hinweg aktuell geblieben sind.

© Hentrich & Hentrich Verlag Berlin 2014

Leseprobe aus: Elisa Klapheck: Margarete Susman und ihr jüdischer Beitrag zur politischen Philosophie, 408 S., 25 Abb., Hardcover, Hentrich & Hentrich Verlag Berlin 2014, Euro 35,00, Bestellen?

  1. Gershom Scholem: Wider den Mythos vom deutsch-jüdischen „Gespräch“ (1962), in: Manfred Schlösser (Hrsg.), Auf gespaltenem Pfad (zum neunzigsten Geburtstag von Margarete Susman), 1964, S. 229–232; erneut in Scholem, 1970, S.7–11. []