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Die Tante Jolesch und ihre Zeit

1975 veröffentlichte Friedrich Torberg (1908-1979) das Buch „Die Tante Jolesch – oder: Der Untergang des Abendlandes in Anekdoten.“ 1978 folgte „Die Erben der Tante Jolesch“.  Darin schildert er anekdotisch eine verlorene Hochkultur, die deutschsprachig-jüdische in den Nachfolgestaaten der Habsburgermonarchie, insbesondere in Wien und in Prag…

Rezension von Hans-Peter Laqueur

Die namengebende Figur beider Bände beschrieb er im Vorwort zu „Die Tante Jolesch“ folgendermaßen: „ …  die Tante Jolesch war, um mit Christian Morgenstern zu sprechen, keine »Person im konventionellen Eigen-Sinn«, sondern ein Typus. Fast in jeder der großen, vielgliedrigen, […] über die österreichische und die ungarische Reichshälfte verzweigten Familien gab es entweder eine Tante oder eine Großmutter, deren treffsichere, teils witzige und teils tiefgründige Aussprüche von der ganzen Verwandtschaft zitiert wurden.“

Auf die Suche nach einigen der Hauptpersonen aus Torbergs zwei Büchern hat sich Robert Sedlaczek begeben und seine Ergebnisse in dem hier zu besprechenden Band vorgelegt.

Wer sich durch die 252 Seiten  – den Rest des Buches umfassen die Titelei und das Inhaltsverzeichnis, die Genealogie der Familie Jolesch und der Familien Sgalitzer/Sommer/Sperber (S. 260-276), die Anmerkungen, Literaturverzeichnis, Abbildungsnachweise und das Personenregister (S. 280-291) – durchgekämpft hat, wird das Buch ziemlich ratlos sinken lassen: Die Erwartungen, die der Titel weckte, wurden nie erfüllt, von der Tante Jolesch und ihrer  Zeit ist nur gelegentlich, mehr  am Rande zu lesen. Anders steht es um den Untertitel, „Eine Recherche“, über die wir sehr viel mehr erfahren, als uns lieb ist. Es werden uns so bedeutsame Fakten mitgeteilt wie die Tatsache, daß der Autor Nichtraucher ist (S. 11). Auch, daß der österreichische Bundeskanzler Kreisky selbst seine engsten Mitarbeiter, zu denen der Verfasser zwei Jahre lang gehörte, mit ‚Sie’ anzusprechen pflegte. Erst nach Ende der Zusammenarbeit duzte er Sedlaczek (S.43).

Ein logischer Ablauf ist in dem Buch nicht zu erkennen, aber es gibt zwei Themen, die immer wieder aufgegriffen werden:

Das erste ist die Frage: „Wer war die „Tante Jolesch“ wirklich?“ Im Verlauf seiner Recherchen ist sich der Auror offenbar nicht sicher, die zahlreichen Aussagen im Buch widersprechen einander. Dabei ist die Situation so eindeutig:  Im Kapitel „Hat die Tante Jolesch wirklich gelebt“ (S. 239 ff.) zitiert der Autor aus etlichen Antwortbriefen Torbergs an seine Leser. Ein Beispiel mag für alle stehen: „… die von mir lediglich als Symbolfigur gemeinte Dame [Tante Jolesch] …“ – Die „Tante Jolesch“ ist – wie wohl jedem Leser von Torbergs Büchern schon immer klar war – eine (vermutlich aus sehr vielen lebenden Vorbildern zusammengefügte) fiktive Pesron, ein ‚Sprachrohr’ für Anekdoten und Aussprüche.

Die unzweideutige Aussage des Schöpfers der Tante Jolesch hierzu hindert den Autor aber nicht daran, immer wieder ihre Historizität zu behaupten (z.B. S. 48:  es sei Gisela Jolesch, geb. Salacz gewesen, eine Begründung hierfür erfolgt nicht;  der ‚Lieblingsneffe’ Franz Jolesch hatte etliche Tanten, warum gerade sie?) oder auch in Frage zu stellen, wenn er aus einem Artikel von Louise Eisler-Fischer (der Ex-Frau des ‚Lieblingsneffen’ Franz) zitiert: „Jene Tante Jolesch … gab es nicht“. (S. 146) – Der Autor kann sich offenbar – trotz Torbergs eindeutigen Aussagen hierzu – nicht entscheiden, pendelt immer wieder zwischen den beiden Möglichkeiten. Diese Unstimmigkeit zeigt, wie wenig die Frage der Existenz einer ‚Tante Jolesch’ den Autor interessiert. Warum er es dennoch nötig fand, seinem Buch eine Genealogie der Familie Jolesch anzuhängen (S. 260-267), erschließt sich dem Leser nicht.

Mehr als die Tante Jolesch interessiert den Autor der Rechtsanwalt Hugo Sperber, über den er eigentlich das Buch hatte schreiben wollen (S. 178).  Aber auch hier hat er zu dem Bild, das uns Torberg von diesem ziemlich ungewöhnlichen Menschen gezeichnet hat, wenig beizusteuern. Die Informationen zu Sperbers Kriegseinsatz im I. Weltkrieg (S. 119 ff.) sind zwar nicht uninteressant, haben aber mit dem Thema des Buches wenig zu tun.  Relevanter – und sehr berührend – ist die Schilderung des Sozialdemokraten Sperber als politischem Strafverteidiger und als selbst Verfolgter im Dollfuß’schen Ständestaat 1934 – die aus schwer nachvollziehbaren Gründen nur  „häppchenweise“ serviert wird (S. 57-58, 67-71, 79-81, 84-89, 95-100) – und über seine Ermordung im KZ Dachau 1938 (S. 208-211).  Hier präzisiert der Autor das, was Torberg nur andeutungsweise vermeldet.  Abgesehen davon sind die meisten Anekdoten, die der Autor über Sperber berichtet, entweder Zitate aus Torbergs Büchern, oder Nacherzählungen davon.

Das zweite Thema, der einzige erkennbare ‚rote Faden’ im Buch, es ist die Beschreibung einer Recherche. Viele (für den Leser) überflüssige Details werden da geschildert, die  Beleuchtung in einem Lesesaal (S. 204), das Wetter bei einer Fahrt nach Jihlava/Iglau (S. 217, 224) etc.  Dazwischen eingestreut – in der zufälligen Abfolge der Funde – Passagen über Personen, die in Torbergs Büchern erwähnt werden – oder auch nicht:

So erhalten wir ausführliche Informationen über Hanns Eisler und Ernst Fischer (S. 122-123) oder über Torbergs Verhältnis zu Bert Brecht (S. 130 ff.), weil Hanns Eisler, Komponist und enger Mitarbeiter Bert Brechts, mit der ex-Frau des ‚Lieblingsneffen’ Franz verheiratet war, die ihrerseits später Ernst Fischer heiratete.

Abgesehen von der Frage nach der Relevanz solcher Darstellungen in Bezug auf das Thema des Buches stellt sich auch die nach ihrer Notwendigkeit in Zeiten von Google, Wikipedia etc.

Hinzu kommt, dass der Leser förmlich ertrinkt in der Flut der Namen, die der Autor nennt:  für 252 Seiten Text ist ein Personenverzeichnis mit über 170 Namen doch recht stattlich. Hier bei der Lektüre den Überblick zu behalten fällt schwer.

Das Buch beruht in weiten Teilen auf dem im Archiv bewahrten Briefwechsel Friedrich Torbergs, den der Autor genau studiert und ausgewertet hat. Doch statt ihn im Sinne der Geschichtswissenschaft seinen Lesern zugänglich zu machen, präsentiert er ihn kommentiert in eigener subjektiver Auswahl. Eine objektive Edition wäre gewiss von Interesse, fände aber wohl nur eine sehr viel kleinere  Leserschaft. So mißbraucht der Autor die Popularität der beiden Bände Torbergs, um seine Recherche an den Leser zu bringen.

Der Autor beschließt seinen Text mit einem kurzen Kapitel, überschrieben mit „Der tiefere Sinn einer Geschichte“. Darin zitiert er einen längeren Abschnitt aus „Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen“ von Gershom Sholem. Dieser Abschnitt erläutert anschaulich die Bedeutung und den Sinn von Anekdoten – und damit auch den Sinn von Torbergs Büchern. Die Frage nach dem Sinn von diesem Buch bleibt jedoch unbeantwortet.

Robert Sedlaczek: Die Tante Jolesch und ihre Zeit. Eine Recherche. In Zusammenarbeit mit Melita Sedlaczek und Wolfgang Mayr. Haymon Verlag, Innsbruch und Wien 2013, Euro 19.90, Bestellen?