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Tipp für gute Israel – Einführung

Der Autor dieses umfangreichen und mit ausgewählten Fotos und Karten versehenen Werks gehört zu den führenden Nah- und Mittelost-Experten Israels: Barry Rubin lehrt am Interdisciplinary Center (IDC) in Herzliya und leitet dort das Global Research in International Affairs Center (GLORIA)…

Von Martin Kloke

Der Nahostexperte, der bis zu seiner Lungenkrebserkrankung im Sommer 2012 im Wochenrhythmus ebenso kluge wie unkonventionelle Analysen zu sicherheits- und militärpolitischen Themen veröffentlichte, macht keinen Hehl daraus, dass er dem konservativ-säkularen Establishment seines Landes angehört. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass das in deutscher Sprache (noch) nicht erhältliche Buch aus dem üblichen Reigen israelkritischer Bücher ausschert. Gleichwohl: Wer aus dieser Verortung automatisch eine affirmative Verteidigungsschrift Israels und des Zionismus ableiten will, sieht sich bald eines Besseren belehrt.

In einer Mischung aus wissenschaftspropädeutischer Diktion und anschaulich-fesselnder Faktenaufbereitung wird der Leser in die Grundzüge der Geschichte Israels und seiner gesellschaftlichen, politischen, sozioökonomischen und kulturellen Verhältnisse eingeführt. Die didaktisch motivierte Reduktion komplexer Themen und Entwicklungen verleitet den Autor nicht zu monokausalen Erklärungsmustern, sondern spornt ihn zu einer nüchtern-konzentrierten Betrachtungsweise an, ohne auf eine multiperspektivische Perspektive zu verzichten.

Barry Rubin gelingt es, Fakten und Daten in ihren komplexen Kontexten zu verorten. Dabei räumt er mit allerlei populären Bildern und alarmistischen Mythen auf. So widerspricht er gängigen Wahrnehmungen, der zufolge Israel „zunehmend nach rechts“ drifte und „immer religiöser“ werde. Demgegenüber zeigt der Autor auf, dass die israelische Gesellschaft in historischer Längsschnittbetrachtung bis heute eher zur pragmatischen Mitte denn zum ideologischen Radikalismus neigt: Einerseits sei die einstmals nur in der Linken verankerte Bereitschaft zum territorialen Kompromiss und zur Zweistaatenlösung im heutigen Israel mehrheitsfähig geworden; andererseits habe der gesellschaftliche Mainstream den „rechten“ Zweifel übernommen, ob es auf der palästinensischen Seite überhaupt einen Partner für den ersehnten Frieden gebe. So sieht Rubin im derzeit unangefochtenen israelischen Ministerpräsidenten den typischen Repräsentanten eines flexibel agierenden „zentristischen“ Politikers. Netanjahus Plädoyer für eine Zweistaatenregelung unterliege dem Vorbehalt, diese dürfe die Sicherheit Israels nicht beeinträchtigen (75).

Innerisraelische Trennlinien zwischen Säkularen und Religiösen oder zwischen Aschkenasim und Mizrachim sieht Rubin zunehmend schwinden. Die meisten jüdischen Israelis verbänden ihren säkularen Lebensstil mit einer „sentimentalen Verbundenheit“ mit jüdischen Traditionen und Symbolen (75, 187) – auch hier dominiere am Ende des Tages die normative Kraft des Faktischen. Zudem hätten periodische Einwanderungswellen wie zuletzt aus der früheren Sowjetunion, aber auch Tendenzen der Amerikanisierung und Globalisierung die israelische Gesellschaft pluralisiert und segmentiert. „Diversity“ verkomme im Israel der Gegenwart nicht zum Schlagwort, sondern sei gesellschaftliche Realität. Weil das Land „inklusiver“ geworden sei, nähmen auch die verschiedenen ethnischen und religiösen Minderheiten ihre Interessen selbstbewusster denn je wahr. Das gälte auch für die in sich sehr heterogene arabische Community, die ihre sozioökonomischen und partizipativen Rückstände zum jüdischen Mainstream mit allerlei politischen Initiativen zu verringern suche, die ihnen die liberal-demokratische Gesellschaft Israels bietet: Dazu gehören punktuelle Streiks und Demonstrationen, aber auch eine zunehmende Teilhabe an der Parteiendemokratie sowie an zivilgesellschaftlichen Interessengruppen wie Gewerkschaften, Berufsverbänden und religiösen Einrichtungen.

In seinen minutiösen Beobachtungen und Analysen schlüpft Rubin immer wieder in die Rolle des ethnografischen Betrachters: Seine beiläufigen Bemerkungen über „rebellische Tendenzen“ und die „schonungslose Selbstkritik“ der Israelis (125) spiegelt die Nähe des Kenners wider, gelegentlich auch die behutsame Distanz des Kritikers. Freimütig reflektiert Rubin die gesellschaftliche Diskriminierung arabischer Bürger Israels, die der zionistischen Identität ihrer mehrheitlich jüdischen Mitbürger mehr oder weniger distanziert begegnen. Der über die Jahre auch in den arabischen Communities gewachsene Wohlstand habe die jüdisch-arabischen Spannungen nicht mindern können. Rubin diagnostiziert unter jüdischen und arabischen Bürgern Israels eine gleichermaßen schrumpfende Bereitschaft zur wechselseitigen Empathie; die mentale Orientierung an einer friedlichen Koexistenz sei in der Gesellschaft insgesamt rückläufig (150), was nicht zuletzt den Polarisierungen des Nahostkonflikts geschuldet sei.

Israel ist seit Jahren regionale Wirtschaftsmacht und in Bezug auf die Hightech-Branche technologische Weltmacht. Mit einer Arbeitslosenrate von weniger als 6 Prozent und einem Wirtschaftswachstum von fast 5 Prozent ist Israel in den zurückliegenden Jahren mit der Weltfinanzkrise besser zurechtgekommen als die meisten anderen Staaten. Im weltweiten Ranking der wirtschaftlich erfolgreichsten Staaten rückte Israel 2009 mit einem jährlichen Bruttoinlandsprodukt von 28.400 Dollar auf den 24. Platz vor. Nach dem UN-Human Development-Index, das Kriterien wie Gesundheit, Wissen und Lebensstandard misst, rangierte Israel 2010 gar an 15. Stelle. Trotz dieser – verglichen mit der sozialistischen Gründerzeit – atemberaubenden Erfolge verhehlt Rubin nicht die Kehrseite dieser Entwicklung: eine im Weltmaßstab hohe soziale Ungleichheit sowie dramatische Armutstendenzen an den Rändern der Gesellschaft, die inzwischen auch die Mittelschichten erreicht haben (237f.).

Obwohl Rubin von Haus aus Experte für Fragen der Außen- und Nahostpolitik ist, enthält diese Einführung internationale Akzente nur insoweit, wie diese zum Verstehen Israels unerlässlich sind. Selbst den Nahostkonflikt und den israelisch-palästinensischen Antagonismus hat der Autor nur am Rande gestreift – eine verlegerische (?) Entscheidung, die dem gewöhnlich scharfzüngigen Kommentator einige Überwindung gekostet haben dürfte. Auch der Stellenwert der Schoah für den zionistischen Geschichtspessimismus sowie neue Bedrohungen in Gestalt eines atomar ambitionierten Irans und ihre Einflüsse auf die kollektive Identität der jüdisch-israelischen Gesellschaft spielen in diesem Buch zumindest vordergründig kaum eine Rolle. Stattdessen hat sich Rubin auf die Darstellung innergesellschaftlicher und innenpolitischer Entwicklungen und Zusammenhänge fokussiert. Dass der amerikanisch-israelische Autor dem Gegenstand seines Einführungswerkes mit einer grundsätzlichen Sympathie begegnet, hat weder der Qualität noch dem Niveau des Buches geschadet.

Rubin, Barry: Israel: An Introduction, New Haven and London: Yale University Press 2012, 340 S., ISBN 978-0300162301, Euro 23,99, Bestellen?

Die Rezension erschien zuerst in: Judaica (Zürich), Heft 4, Dezember 2012, S. 421ff.