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Erschütternde Begegnungen

Welche Identität haben Schoa-Überlebende und ihre Kinder?  Fühlen sie sich jüdisch durch  Glauben und Tradition, durch  Verbundenheit mit dem Land Israel, durch die Zugehörigkeit  zur jüdisch-europäischen Geschichte?…

Von Maria Heer

Das sind bedrängende Fragen, die das Leben von Betroffenen prägen und auch ihre nicht-jüdische Umgebung zutiefst berühren. Mitten hinein in die Fragestellung führt das Sonderheft der Zeitschrift „Psychoanalyse“, das eine Sammlung paradigmatischer und zugleich schonungslos privater Zeugnisse umfasst.

Einzel-Darstellungen konfrontieren den Leser  mit erschütternden Kinderschicksalen, gezeichnet von Flucht, Ausgrenzung  und dem immer präsenten Entsetzen, das geheim blieb, weil Großeltern und Eltern nicht sprechen konnten. Sie vermitteln erlebtes Wissen, z.B. über die Auseinandersetzung des frühen Staates Israel mit  Widerstandskämpfern und Überlebenden,  und über ihre Erfahrungen mit der Nachkriegsbevölkerung in Deutschland, die sich weigert, den Menschheits-Mord als ihre überkommene Schuld wahrzunehmen.

„Was ich nicht aushalte, ist das Schweigen auf deutscher Seite“,  zitiert  der Mitherausgeber des Sonderhefts, Roland Kaufhold, den Psychoanalytiker Sammy Speier, der 2003  im Alter von 59 Jahren in Frankfurt starb. Einfühlsam zeichnet Kaufhold den Zwiespalt zwischen Sehnsucht nach Israel und Fremdsein in  Deutschland nach, unter dem Sammy Speier, nach seiner „Zwangsemigration“ als 14-Jähriger von Tel Aviv nach Frankfurt/Main, wohl zeitlebens litt.

Beklemmend in ihrer Authentizität sind Schilderungen von Emigranten, die  wie der Nürnberger Jurist Meinhold Nussbaum mit Frau und vier Kindern im April  1933 eine verzweiflungsvolle Flucht antraten. Oder wie die Wienerin Anita von Raffay, die, aus ihrer Kindheit im geliebten Wien herausgerissen, nicht wieder heimisch werden konnte.

In den Lebensgeschichten spiegeln sich oft die Verdrängungsmechanismen  im Täter-Deutschland,  die schamlose Gleichgültigkeit und Ignoranz. Dass Nachkommen der Nazi-Generation, die sich ihrer Familien-Geschichte stellen, unter der Verstrickung leiden, bringt  Alexandra Senfft zum Ausdruck: Sie ist Enkelin von Hanns Ludin, der als Gesandter des Dritten Reichs In der Slowakei für die Deportation der dortigen Juden mitverantwortlich war.

Das Heft  leistet einen wichtigen Beitrag zu Selbstfindung und Annäherung jüdischer und nichtjüdischer Deutscher im Angesicht der Schoa.

Psychoanalyse – Texte zur Sozialforschung. Nr. 1/2012, Schwerpunktthema: Jüdische Identitäten in Deutschland nach dem Holocaust, Gast-Herausgeber: Roland Kaufhold, Bernd Nitzschke, Euro 12,00, Weitere Informationen und BestellungLESEPROBEN