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Die Frage aller Fragen: Warum die Deutschen? Warum die Juden?

Warum ermordeten Deutsche sechs Millionen Männer, Frauen und Kinder, und das aus einem einzigen Grund: weil sie Juden waren? Wie war das möglich? Wie konnte ein zivilisiertes und kulturell so vielschichtiges und produktives Volk derart verbrecherische Energien freisetzen?…

Träge Deutsche, rege Juden und das Gift des Neides: Götz Aly über die Vorgeschichte des Holocaust.

Warum die Juden? Warum die Deutschen? Fragen, die sich seit dem Holocaust immer wieder stellen. Der bekannte Historiker Götz Aly findet provokante Antworten. Er beschreibt die Modernisierungsscheu und Freiheitsangst vieler christlicher Deutscher während des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Dagegen begeisterten sich viele deutsche Juden für das Stadtleben, für höhere Bildung; sie wussten den gesellschaftlichen Wandel zu nutzen. Und die gemächlichen Nicht-Juden sahen ihnen mit zunehmendem Neid hinterher. Daraus erst konnte ihr nationaler Dünkel und ein neuer, am Ende mörderischer Antisemitismus erwachsen. Götz Aly gelingt es erneut, der Deutung der deutschen Geschichte eine überraschende Wendung zu geben.

»Auch ich habe nie auf die Frage, wie es ausgerechnet in Deutschland im 20. Jahrhundert zum organisierten Judenmord kam, eine plausible Antwort gefunden. Götz Aly hat mir endlich eine einleuchtende Erklärung vermittelt. Ich betrachte sein Buch als den wohl wichtigsten Beitrag in der unendlichen Literatur zu diesem Thema. Seine Analyse eines geschichtlich verwurzelten Prozesses hat mir vieles klarer und das Unverständliche verständlich gemacht.«
W. Michael Blumenthal, Direktor des Jüdischen Museums Berlin

Warum die Deutschen? Warum die Juden?
Gleichheit, Neid und Rassenhass 1800-1933

Götz Aly

Die Frage aller Fragen
Warum die Deutschen? Warum die Juden?

Das bleibt die Frage aller Fragen, die Deutsche beantworten müssen, wenn sie ihre Geschichte verstehen wollen, wenn sie versuchen, die darin eingebundenen Geschichten ihrer Familien sich und ihren Kindern zu erklären.

Juden, die im 19. Jahrhundert aus den östlichen Nachbarstaaten zuwanderten, waren froh, wenn sie die deutsche Grenze überschritten hatten. Sie schätzten die Rechtssicherheit, die wirtschaftliche Freiheit und die Bildungschancen für ihre Kinder, die ihnen Preußen seit 1812 und später das Kaiserreich boten. Pogrome, wie sie bis ins 20. Jahrhundert hinein in den Ländern Ost- und Südosteuropas verbreitet waren, kannte man in Deutschland nicht mehr. Jenseits aller Hemmnisse hatten Juden hier, zumal in Preußen, gute Möglichkeiten, ihre Selbstemanzipation schwungvoll voranzutreiben. Paradox, aber das vergleichsweise hohe Maß an Freiheit, das den Juden gewährt wurde, schürte einen speziellen Antisemitismus.

Im Jahr 1910 wohnten in Deutschland mehr als doppelt so viele Juden wie in England, fünf Mal so viele wie in Frankreich. Als Deutschland die Provinz Posen 1919 an das neu erstandene Polen abtreten musste, flohen die dortigen jüdischen Deutschen »in geradezu pathologischer Angst vor den neuen polnischen Herren des Landes Hals über Kopf« in Richtung Berlin.

Einer, der zeitlebens über seine Existenz als Deutscher und Jude nachdachte, war Siegfried Lichtenstaedter, seines Zeichens 1932 pensionierter höherer bayerischer Beamter und nebenberuflich Schriftsteller. Er bemerkte 1937: Wer um 1900 in Deutschland vorhergesagt hätte, »dass vom Jahre 1933 ab Tausende von uns nach Palästina fliehen würden, um nicht unterzugehen, wäre zweifellos als reif für das Irrenhaus betrachtet worden«.

Solche Tatsachen verbieten einfache Antworten auf die beunruhigende, geschichtlich zu beantwortende Doppelfrage: Warum die Deutschen? Warum die Juden?
Im heutigen Deutschland rücken wir die Opfer in den Mittelpunkt unserer Betrachtungen und ermuntern zur Identifikation. Das demonstrieren die vielen Denkmäler, Museen, Forschungen, literarischen und pädagogischen Anstrengungen eindrucksvoll. Parallel dazu stilisieren wir die Täter zu schier außerirdischen Exekutoren. Mit einer Distanziertheit, die oft die eigene Familiengeschichte ignoriert, bezeichnen wir sie vorzugsweise als »die Nationalsozialisten«, »die Nazi-Schergen«, das »NS-Regime«, »fanatische Rassenideologen« oder wir sprechen vom »paranoiden Weltbild der Rassenantisemiten« und von der »völkischen Bewegung«. Mit solchen Terminologien ist wenig Einsicht zu gewinnen.

(Aus dem Vorwort von Götz Aly zu seinem Buch: „Warum die Deutschen? Warum die Juden?„)

Ich versuche auf den folgenden Seiten zu zeigen, was geschichtlich hinter solchen Begriffen stand. Auch verschiedene Theorien über Faschismus, Diktaturen im Allgemeinen oder die Logik von Inklusion und Exklusion dienen meines Erachtens dazu, der Nachwelt den Holocaust in sorgfältig einhegender Weise auf Distanz zu halten. Letztlich blasse Begrifflichkeiten vernebeln den Rassenmord hinter marxistischen Gesetzmäßigkeiten oder verharmlosen ihn zum Rückfall in vorzivilisatorische Barbarei oder schieben die Last der Verantwortung auf einen deutschen Sonderweg oder auf eine bestimmte, angeblich genau einzugrenzende Generation von Tätern, auf eine spezielle Ideologie oder einen allgemein verbreiteten Hang zur totalitären Staatsform.

So logisch solche Gedankenspiele in sich aufgebaut sein mögen, so wenig erklären sie den Verlauf der deutschen Geschichte, der am Ende zum Massenmord führte. Auf solche, nur scheinbar erklärenden Ansätze darf getrost mit Goethe entgegnet werden, dass die Theoretikerzunft »die Phänomene gern los sein möchte und an ihrer Stelle deswegen Bilder, Begriffe, ja oft nur Worte einschiebt«. Ein neues Wort erschließt nicht unbedingt eine neue Wahrheit.

Wer aus dem Mord an den europäischen Juden lernen will, sollte als Erstes damit aufhören, die Vorgeschichte mit Hilfe eines bipolaren Schemas in »gute« und »böse« Entwicklungslinien aufzuspalten. Geschichtsoptimisten mögen solche Konstruktionen. Sie sehen ihre Gegenwart an der Spitze der Zivilität und wärmen das Publikum an der Illusion, dass alles, was uns Heutigen richtig oder falsch erscheint, in der Vergangenheit ebenso richtig oder falsch gewesen sei. Analytisch führt solches Geschichtsdenken in die Irre. Es schafft Abstand und erklärt nichts.

Ziel dieses Buches ist es, einige Sichtblenden wegzuschieben, die den Blick auf die Vorgeschichte derart verengen, dass der Nationalsozialismus zum Fremdkörper, zum im Grunde unbegreiflichen Fehltritt im Gang deutscher Geschichte wird. Deswegen nehme ich auch Männer in den Blick, die zwar als Reformer und Vorkämpfer freiheitlicher Ideen berechtigtes Ansehen verdienen, aber als Judengegner, ja Judenhasser hervortraten: zum Beispiel Karl vom Stein, Ernst Moritz Arndt oder Friedrich Ludwig Jahn, Peter Christian Beuth, Friedrich List oder Franz Mehring – darunter nicht wenige schwarz-rot-goldene Demokraten, auf die sich die heutige Bundesrepublik beruft. Ferner erscheint mir für das Verständnis des deutschen Antisemitismus wichtig zu sein, die von verschiedenen Seiten gespeisten antiliberalen Strömungen in Deutschland in Betracht zu ziehen: die von Konservativen gestützte antiliberale Wende Bismarcks; das kollektivistische, schließlich volkskollektivistische Denken deutscher Sozialisten; die Selbstzerstörung des Liberalismus unter der Ägide von Friedrich Naumann.

Im Jahr 1933 versuchte Siegfried Lichtenstaedter die künftigen Aussichten der deutschen Juden zu analysieren. Seit Jahren schon studierte er den Völkischen Beobachter aufmerksam – ein »vielgelesenes Blatt, Organ der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei««, wie er bereits 1922 bemerkt hatte.“

Lichtenstaedter fragte sich: Warum die Juden? Einerseits, so meinte er, stehen sie dem Verhalten, dem Aussehen und der Religion nach den europäischen Mehrheitsgesellschaften nahe, andererseits sei ihr »kollektives Ich« deutlich unterscheidbar. Im Gegensatz zur Antisemiten-Bewegung müsse eine Antilinkshänder-Bewegung scheitern, weil die verbindenden Eigenschaften der Linkshänder zu schwach sind, um ein kollektives Linkshänder-Ich zu begründen. Ist das Einigende – wie im Fall der Juden – hinreichend stark, ergibt sich das kompakte Bild einer Gruppe, dem weitere Merkmale zugeschrieben werden können.“

Lichtenstaedter betrachtete die NSDAP als Partei sozialer Aufsteiger. Daraus schloss er 1933 auf seine eigene Zukunft und die der anderen deutschen Juden. Im Durchschnitt, so stellte er fest, bekleideten die Juden in Mittel- und Westeuropa höhere soziale Stellungen; das kreideten ihnen die hinterherhinkenden Nichtjuden zunehmend an. Deren nachholendes Aufstiegsstreben verschaffte den Gegnern der Juden enormen Zulauf.
Nach Lichtenstaedters Eindruck hielten derart motivierte Antisemiten die mosaische Religion und die jüdische Herkunft für »praktisch belanglos«: Sie konkurrierten um »Nahrung, Ehre und Ansehen«. Seiner Meinung nach bezog der Antisemitismus seine aggressive Dynamik aus Sozialneid, Konkurrenz und Aufstiegsdrang: Wenn die Gruppe der Juden »im unverhältnismäßigen Maße anscheinend >glücklicher<« als andere ist, »warum sollte dies nicht ähnlich Neid und Missgunst, Sorgen und Bekümmernis um die Zukunft im Kopfe und Herzen der anderen erregen, wie es im Verhältnis zwischen Individuen nur allzu oft der Fall ist?«.

Lichtenstaedter unterschied das kollektive Ich der Juden, also die Distinktionsmerkmale, von den Motiven der Judenfeinde. Er differenzierte zwischen den äußeren Anknüpfungspunkten des Antisemitismus und den Zielen der Antisemiten. Statt die Nationalsozialisten zu dämonisieren, analysierte er die politischen Kräfte, die ihn existentiell bedrohten – nicht nur ihn, nicht nur seine Glaubensgenossen, sondern alle, die als Angehörige der jüdischen Rasse galten. Lichtenstaedter wollte seine nationalsozialistische Umwelt verstehen. Ihm lag an Vorhersagen und daraus abzuleitenden Verhaltensregeln. Er stellte in Rechnung, dass Hitler das Judentum als »ein Volk mit besonderen Wesenseigenheiten« ansah, die es »von allen sonst auf der Erde lebenden Völkern scheiden« würde. Doch speiste sich der deutsche Antisemitismus nach seinem Eindruck nicht aus einer speziell ausgedachten Ideologie, sondern aus materiellen Spannungen und Interessen – letztlich aus derjenigen unter den sieben Todsünden, die anders als Wollust, Völlerei, Hoffart, Habgier, Zorn oder Faulheit überhaupt keinen Spaß macht: dem Neid.

Neid zersetzt das soziale Miteinander. Er zerstört Vertrauen, macht aggressiv, führt zur Herrschaft des Verdachts, verleitet Menschen dazu, ihr Selbstwertgefühl zu erhöhen, indem sie andere erniedrigen. Der tückische, scheele Blick auf den Rivalen, die üble Nachrede und der Rufmord gelten dem Erfolgreichen, erst recht dem Außenseiter. Dabei vergiften sich die Neider selbst, werden immer unzufriedener und noch gehässiger. Sie wissen das nur zu gut. Deshalb verstecken sie diesen Charakterzug schamhaft hinter allerlei vorgeschobenen Argumenten – zum Beispiel hinter einer Rassentheorie. Neider brandmarken die Klügeren als zwar schlau, aber nicht tiefsinnig; sie zernagt der Erfolg der anderen, sie schmähen die Beneideten als geldgierig, unmoralisch, egoistisch und daher verachtenswert. Sich selbst erheben sie zu anständigen, moralisch superioren Wesen. Sie bemänteln das eigene Versagen als Bescheidenheit und werfen dem Beneideten vor, er spiele sich lärmend in den Vordergrund.
Der Neider strebt nicht unbedingt danach, es dem Beneideten gleichzutun. Nicht selten lehnt er dies lauthals ab. Er richtet seine Energie »auf Zerstörung des Glücks anderer«, wie Immanuel Kant beobachtete. Büßen diese anderen ihre Vorzüge und Vorteile ein, geht es ihnen an den Kragen, bereitet das dem Neider stilles Vergnügen, er genießt Häme und Schadenfreude. Verdienen die Beneideten dann Mitleid oder gar Beistand?

Nein! Sie wussten doch stets alles besser! Hatten immer die Nase vorne! Mögen sie sich selber verteidigen! So beruhigt der Neider seine moralischen Restskrupel, steckt die Hände in die Tasche und gibt die verfolgte Unschuld. Wenn andere den Beneideten drangsalieren, sagt sich der kleine Neider: »Was geht mich das an!«
Sein Gewissen bleibt ruhig. Er ist es nicht gewesen.

Aus welchen Quellen sprudelt der Neid? Aus Schwäche, Kleinmut, mangelndem Selbstvertrauen, selbstempfundener Unterlegenheit und überspanntem Ehrgeiz. »Der Deutsche sagt von sich ganz extra, dass er deutsch sein soll«, monierte Julius Fröbel, 1848/49 Parlamentarier in der Paulskirche, und erkannte darin Minderwertigkeitsgefühle: »Der deutsche Geist steht gewissermaßen immer vor dem Spiegel und betrachtet sich selbst, und hat er sich hundert Mal besehen und von seinen Vollkommenheiten überzeugt, so treibt ihn ein geheimer Zweifel, in welchem das innerste Geheimnis der Eitelkeit beruht, abermals davor.«

Ganz anders Engländer, Franzosen oder Italiener. Letztere errichteten ihren Staat 1870 nach drei Kriegen, die sie im eigenen Land gegen die Fremdmächte Frankreich und Österreich und gegen den päpstlichen Kirchenstaat geführt hatten, und bestätigten die Gründung per Volksabstimmung. Währenddessen marschierte der von Preußen geführte deutsche Staatenbund zwischen 1864 und 1870 ohne plausible Gründe in Dänemark, Österreich und Frankreich ein, um den Anschein nationaler Selbstgewissheit zu erlangen. Der Historiker Heinrich von Treitschke jubelte: »Der Krieg ist die beste Arznei für ein Volk.« Das Ergebnis der mit Blut und Eisen zusammengeschmiedeten Einheit blieb brüchig, und 1933 beobachtete der italienische Diplomat Carlo Sforza: »Die Deutschen fragen sich in jedem Augenblick, was >Deutschtum< sei oder nicht sei.«

Die dem deutschen Nationalismus eigene Selbstunsicherheit führte zwischen 1800 und 1933 zu den bekannten Auswüchsen nervöser Prahlerei. Man denke an die Proklamation des zweiten Kaiserreichs. Sie musste 1871 auf dem Boden des Erbfeindes im Spiegelsaal von Versailles über die Bühne gehen, weil das neue Reich über kein allgemein anerkanntes Staatszentrum verfügte.

Man denke auch an die Ansprache, mit der Kaiser Wilhelm II. im Sommer 1900 deutsche Marinesoldaten zur Niederschlagung eines Aufstandes nach China verabschiedete: »Kommt ihr vor den Feind, so wird derselbe geschlagen!« Und zwar so, »dass es niemals wieder ein Chinese wagt, einen Deutschen scheel anzusehen!«

Zu Hitlers 44. Geburtstag 1933 ließen sich die Deutschen als »das erste Volk des Erdballs« umschmeicheln. Wer so redet, dem fehlt die innere Balance… …

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