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Menschliches in unmenschlichen Zeiten

Judenretter in Europa: Arno Lustiger setzt mutigen Männern und Frauen ein verdientes Denkmal…

Der Autor weiß, wovon er schreibt; hat er doch selbst den brutalen Terror des NS-Regimes erlitten und dank unterschiedlichster „Rettungsaktionen“ mehrere Ghettos, Arbeits- und Konzentrationslager überlebt. Nur wenige Tage vor der Befreiung entkam er von einem Todesmarsch und versteckte sich in einem Gartenhaus. Dort wurde er von Volkssturmmännern aufgespürt. Arno Lustiger flüchtete erneut. Die Soldaten schossen sofort; obwohl er ein sicheres Ziel abgab, traf ihn keine einzige Kugel. „Eigentlich hätten sie mich treffen müssen“, erinnert er sich. „Aber vielleicht hatten sie Gewissensbisse und wollten sich kurz vor Kriegsende nicht mehr mit einem Mord belasten.“

Für diese und andere Handlungen des zivilen Ungehorsams prägte Arno Lustiger anlässlich einer Rede zum 60. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz den Begriff „Rettungswiderstand“. Nicht nur aktives Handeln gegen das NS-Regime und der Versuch es zu beseitigen, ist nach seiner Ansicht als Widerstand zu begreifen, sondern auch das Sichverweigern, das Zeigen von Zivilcourage und das Leisten von Überlebenshilfe für die verfolgten Juden. Diese Rettungshandlungen erfolgten oft spontan und individuell von mutigen Menschen, die sich ihre Humanität bewahrt hatten, wie etwa eine Berliner Prostituierte, die häufig ihre Freiheit und ihr Leben einsetzte, um Juden vor Deportation und Tod zu retten. Mehrfach bot Hedwig Porschütz Juden in ihrer kleinen Eineinhalbzimmerwohnung Zuflucht. Wenn Sie Freier erwartete, mussten die Untergetauchten kurzfristig ihr Versteck verlassen. Gleichzeitig besorgte Porschütz auf dem Schwarzmarkt Lebensmittel und schickte diese per Post an Häftlinge in Theresienstadt. Im Juni 1944 wurde Hedwig Porschütz verhaftet und ins Zuchthaus gesperrt. Nach dem Krieg stellte sie einen Antrag auf Haftentschädigung, da sie doch Widerstand gegen das NS-Regime geleistet hätte. Der Antrag wurde mit dem Verweis auf ihre „gewerbsmäßige Unzucht“ abgelehnt. Ohne jegliche Anerkennung für ihre mutigen Taten starb Hedwig Porschütz 1977 in großer Armut. Es gab viele dieser einfachen Menschen, Arbeiter, Wehrmachtssoldaten, Polizisten, Bauern, Hausfrauen und Geistliche, die Rettungswiderstand leisteten. Im Gegensatz zu ihren berühmten Mitstreitern, wie etwa Oskar Schindler, Berthold Beitz oder Raoul Wallenberg standen diese „stillen Helden“ nie im Licht der Öffentlichkeit.

Darunter auch Albert Göring, der jüngere Bruder von NS-Reichsmarschall Hermann Göring. Er half Verfolgten in Wien und Prag, wobei er den Namen seines Bruders benutzte und so Ausreisepapiere etwa für die jüdische Ehefrau von Franz Lehár besorgen konnte. Als Direktor des Auto- und Rüstungskonzerns Skoda rettete er viele Konzentrationslagerhäftlinge, da er sie zu unersetzlichen Arbeitskräften erklärte. Nach dem Krieg wurde Albert Göring aufgrund seines Namens verhaftet. Obwohl er eine genaue Liste mit den Namen von geretteten Personen anfertigte, glaubten ihm die US-Behörden nicht. Erst als ein amerikanischer Major den Namen seines Onkels auf der Liste fand, wurde Albert Göring entlassen. Er starb nach schwerer Krankheit mittellos 1966 in München. Seine Rettungstaten erwähnte er nie.


Arno Lustiger, Foto: jgt-archiv

Niemand weiß, wie viele Menschen in Europa durch den Rettungswiderstand überlebt haben. Arno Lustiger schätzt die Zahl auf mehr als 100.000. „Auch in Deutschland gab es Spielräume, die man hätte nutzen können, Hilfe war möglich! Aber Millionen haben sie nicht genutzt!“

Auf rund 450 Seiten dokumentiert das Buch den „Rettungswiderstand“ von Einzelpersonen, die in Deutschland und bei den verbündeten Nationen, sowie in den besetzten und neutralen Ländern Widerstand gegen die Unmenschlichkeit geleistet habe. Spannende Geschichten und Biografien zeugen von über 200 bislang unbesungenen Helden. „In diesem Buch gibt es keine Hierarchisierung“, schreibt Lustiger, „was für mich zählt, ist die Bereitschaft der Retter, ihre und ihrer Angehörigen Freiheit, Gesundheit und Leben einzusetzen, um den ihnen manchmal unbekannten Menschen beizustehen und sie zu retten. Ihnen gebührt eine, wenn auch sehr späte, Würdigung.“

Arno Lustiger hat ein wichtiges, schon längst überfälliges Buch geschrieben. Ein emotional bewegendes Leserlebnis und eine Hymne auf die Menschlichkeit. (jgt)

Arno Lustiger, Rettungswiderstand. Über die Judenretter in Europa während der NS-Zeit, Göttingen 2011, 462 Seiten, 29,90 €, Bestellen?