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Enttäuschte Hoffnung oder Erfolgsgeschichte?

Die Wiedergutmachung für die Verfolgten des Nationalsozialismus im Spiegel der Praxis…

Von Florian Grumblies
Jüdische Zeitung, Oktober 2010

Für die Bundesregierung war es 1986 «eine historisch einzigartige Leistung», auf die, wie es ein beteiligter Rechtsanwalt ausdrückte, ein Deutscher das Recht hätte, stolz zu sein. Andere wiederum erblickten Mitte der 80er-Jahre in ihr einen «Kleinkrieg», der ihrer Auffassung nach eher einer zweiten Verfolgung gleichkam. Konträre Bewertungen der sogenannten Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts, welche Bundeskanzler Adenauer 1951 zur «moralischen Pflicht der Deutschen» erklärt hatte. Unter den zu Recht wegen seines euphemistischen und exkulpatorischen Charakters kritisierten Begriff, der sich aber längst in Forschung und Öffentlichkeit etabliert hat, fällt neben zwischenstaatlichen Abkommen der Bundesrepublik, wie dem Luxemburger Abkommen von 1952 mit Israel und der Jewish Claims Conference, vor allem die individuelle Wiedergutmachung: die Rückerstattung entzogener Vermögensgegenstände und die Entschädigung immaterieller Schäden.

Die Restitution entzogenen Eigentums in Westdeutschland wurde durch Militärgesetze der Alliierten geregelt. Demgegenüber kam es im Osten Deutschlands bis zur Wiedervereinigung zu keiner nennenswerten Rückerstattung an NS-Verfolgte. Mit dem Erlass der Rückerstattungsgesetze 1947 bzw. 1949 konnten Verfolgte, denen aus Gründen der Rasse, Nationalität, Religion oder der politischen Auffassung feststellbare Vermögensgegenstände entzogen worden waren, erstmals Ansprüche innerhalb eines Jahres anmelden. Die Vertretung erbenlosen Vermögens übernahmen von den Militärregierungen legitimierte Nachfolgeorganisationen. «Feststellbare Vermögensgegenstände» bezog sich auf im Geltungsbereich der Militärgesetze befindliche Besitzgegenstände wie Häuser, Geschäfte, Konten, Wertpapiere oder Schmuck. Es war egal, ob sie noch existierten oder bereits nicht mehr vorhanden waren. Die Gegenstände mussten lediglich durch Enteignung oder einen Verkauf, der gegen die «guten Sitten» verstieß oder unter Zwang erfolgte, ungerechtfertigt entzogen worden sein. Bei jüdischen Anspruchstellern, die fast immer ohne Unterlagen geflüchtet waren, nahm das Gesetz, um ihnen das Verfahren zu erleichtern, generell eine solch ungerechtfertigte Entziehung an. Die Beweislast, dass dennoch beispielsweise ein Hauskauf unter Wahrung aller Interessen des jüdischen Verkäufers (angemessener Kaufpreis, Verkauf wäre auch ohne Nationalsozialismus passiert) vollzogen worden war, lag daher beim Käufer.

Langwierige Gerichtsverfahren

Die Restauration der Eigentumsverhältnisse bildete das Leitprinzip der Rückerstattung. Das vorgeschrieben Verfahren überwachten und entschieden spezielle Wiedergutmachungsbehörden und Gerichtsinstanzen, die zwischen dem Opfer und dem aktuellen Besitzer vermittelten. Auch wer den Gegenstand erst nach der Entziehung «gutgläubig» erworben hatte, fiel unter die Rückerstattungspflicht. War die Rückgabe des Eigentums nicht mehr möglich, konnte der Verkauf oder die Enteignung mittels Nachzahlung oder Schadensersatz an die Anspruchsteller beglichen werden. In der Praxis einigten sich die unter veränderten Vorzeichen aufeinandertreffenden Opfer und Täter meist rasch auf die Nachzahlung eines Geldbetrags. Langwierige und damit teure Gerichtsverfahren konnten sich die zumeist mittellosen Antragsteller, in der großen Mehrzahl ins Ausland geflüchtete Juden, ohnehin nicht leisten. Die neuen Eigentümer stellten sich demgegenüber häufig als «gutwillige Erwerber» dar, beurteilten Kaufpreis und Kaufverhandlungen als «normal» und sahen sich deshalb stellvertretend für die deutsche Gesellschaft von der Restitution als bestraft an. Oft traten bei den Ermittlungen zudem jene Notare, Gutachter, Konkurrenten, Banken und Makler als Zeugen auf, die in der NS-Zeit vom «Arisierungswettlauf» profitiert hatten, selbst aber nicht belangt wurden. Im Ergebnis zementierte und legitimierte die Rückerstattung, die Ende der 50er-Jahre so gut wie beendet war, quasi nachträglich die durch die «Arisierung» hergestellten Eigentumsverhältnisse.

Ein Großteil der Rückerstattungsansprüche richtete sich gegen das Deutsche Reich. Die Interessen des Bundes vertraten in diesen Verfahren die Landesfinanzminister in Gestalt der Oberfinanzbehörden. Personelle Kontinuitäten in den Oberfinanzbehörden brachte es mit sich, dass die Verfolgten im Gerichtssaal mitunter auf Finanzbeamte trafen, die vormals die Konfiskation und Verwertung der Vermögen betrieben hatten und nun aufgrund ihrer «Sachkompetenz» mit der Restitution betraut waren. In den Verfahren versuchten sie, Zahlungsverpflichtungen des Bundes soweit möglich zu minimieren und entfremdeten dabei die Verfolgungsgeschichte in der juristischen Auseinandersetzung bisweilen völlig. Bedienen musste der Bund zunächst nur auf Naturalrestitution lautende Urteile. Die Auszahlung festgestellter Schadensersatzansprüche und Geldbeträge erfolgte ab 1957 mit dem Bundesrückerstattungsgesetz. Die Bundesrepublik übernahm erst jetzt die Geldverbindlichkeiten des Deutschen Reiches. In der Gesamtbetrachtung der Wiedergutmachungsleistungen spielt die Rückerstattung mit 7,5 Milliarden D-Mark jedoch nur eine marginale Rolle. Die Entschädigung, die Wiedergutmachung des kleinen Mannes, prägte deutlich nachhaltiger das Leben der Opfer des Nationalsozialismus.

Im Unterschied zur Rückerstattung wurde die Entschädigung durch Bundesgesetze geregelt. Das nach langen Diskussionen verabschiedete Bundes­ergänzungs­gesetz von 1953 vereinheitlichte und erweiterte die aus Fürsorgemaßnahmen nach Kriegsende hervorgegangen Landesgesetze. Seine teils erheblichen Mängel machten aber bereits 1956 eine rückwirkende Novellierung durch das Bundesentschädigungsgesetz notwendig. Doch führten später die beständigen Rechtsanpassungen und die gebotene Erweiterung des anspruchsberechtigten Personenkreises 1965 zur Verabschiedung des Bundesentschädigungsschlussgesetzes, mit dem die Bundesregierung einen aus heutiger Sicht illusorischen Schlussstrich unter die Wiedergutmachung setzen wollte. Entschädigungen für damals «vergessene Opfergruppen» wird seither mit Sonderregelungen, Stiftungen und Hilfsfonds begegnet.

Im Schatten des Kalten Kriegs

Im Unterschied zur Rückerstattung, die einen gerichtlich festgestellten Ausgleich zwischen zwei Rechtsparteien erwirken sollte, stellte die Entschädigung ein Antragsverfahren dar. Hiernach erhielten die Verfolgten oder ihre Erben, wenn sie die Voraussetzungen erfüllten, für bestimmte Ansprüche singuläre oder permanente Geldzahlungen von der Bundesrepublik. Nur Verfolgte aus Gründen der Rasse, politischen Gegnerschaft, Religion oder Weltanschauung und ihre Erben, die einen Schaden an Leben, Körper, Gesundheit, Freiheit, Vermögen oder beruflichem und wirtschaftlichem Fortkommen erlitten hatten, besaßen ein Anrecht auf Entschädigung. Außerdem mussten die Verfolgten in den Grenzen des ehemaligen Deutschen Reiches von 1937 gelebt haben oder in der Bundesrepublik gemeldet sein. Ausländer und deutsche Verfolgte, die in Ländern ohne diplomatische Beziehungen zur Bundesrepublik wie beispielsweise der Sowjetunion wohnten, durften keine Anträge stellen. Der Kalte Krieg warf hier erkennbar seinen Schatten auf die Wiedergutmachung. Als nicht entschädigungswürdig galten fernerhin ehemalige Nationalsozialisten, Kriminelle und Personen, die nach 1949 gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung verstoßen hatten.

Maßgeblich für die Entschädigungsfähigkeit war der Verfolgungstat­bestand. Von den Nationalsozialisten ins KZ verschleppte «Gewohnheitsverbrecher», Homosexuelle, Zwangssterilisierte, Fälle von «Rassenschande» und «Zigeuner» fielen nicht in das Raster für «typisches NS-Unrecht». Die von den Nationalsozialisten geschürten Vorurteile und Ansichten spiegelten sich dabei in abgeschwächter Form in der Nachkriegsgesellschaft und damit auch in den Entschädigungsgesetzen wider. Beispielsweise sah der Bundesgerichtshof 1956 für «Zigeuner», denen «wie primitiven Urmenschen ein ungehemmter Okkupationstrieb zu eigen ist», eine rassische Verfolgung erst nach Himmlers Auschwitzerlass von 1943 als gegeben an. Verfolgte dieser Opfergruppen mussten entweder in langen Gerichtsverfahren ihr Anrecht auf Entschädigung erkämpfen, später auf andere Kriegsfolgengesetze und Härteregelungen zurückgreifen oder versuchen sich letztlich in einen anderen Verfolgungstatbestand einordnen zu lassen, um Kompensation zu erhalten.

Einen Sonderfall bildeten Kommunisten, sofern sie nach Gründung der Bundesrepublik noch politisch für die Kommunistische Partei tätig waren. Eine Entschädigung blieb ihnen zur Zeit des damals grassierenden Anti­kommunismus versagt, da sie nach Sicht vieler Entschädigungsbehörden gegen die demokratische Grundordnung opponierten. Das Bundes­verfassungs­gericht stoppte 1961 diese eingeengte Sichtweise. Fortan schlossen nur Aktivitäten nach dem Parteiverbot 1956 eine Entschädigung aus.

Pauschal fünf Mark pro Hafttag

Die Entscheidung und Überprüfung der eingereichten Anträge oblag bei den Ländern angesiedelten Entschädigungsbehörden, im Streitfall Gerichtsinstanzen, an deren Ende der Bundesgerichtshof stand. Die Beamten zerlegten das Opferschicksal in die verschiedenen Schadenskategorien, begutachteten die Schäden, verlangten Belege, nahmen Akteneinsicht, holten bei mangelnder Beweislage Zeugenaussagen ein und errechneten letztlich die rechtlich dem Opfer zustehende Entschädigung. Wie die Beamten der Oberfinanzbehörden in der Rückerstattung waren sie angehalten, bei Einhaltung der Rechtslage die Belastung des Staatshaushalts so gering wie möglich zu halten. Ein permanenter Zwiespalt, der nicht selten dazu führte, dass Entscheidungsräume und rechtliche Unklarheiten zuungunsten der Verfolgten ausgenutzt wurden.

Die materielle Entschädigung bestand entweder aus einer Kapitalentschädigung, für die mitunter Höchstgrenzen galten, oder der bis heute zahlenmäßig bedeutendsten Hilfe für NS-Opfer, der Rentenzahlung. Bis auf die pauschal mit fünf D-Mark pro Hafttag entschädigte Freiheitsentziehung errechneten die Beamten jeden Schaden individuell. Bei Berufsschäden erfolgte die Berechnung nach der dem Verfolgten vergleichbaren Beamtengruppe. Die Einordnung in die Beamtengruppe, Schadenszeitraum und die Frage, ob und ab wann der Verfolgte wieder eine ausreichende Lebensgrundlage erreicht hatte, ab der keine Entschädigung mehr fällig war, bildeten nur einige der ständigen Konfliktherde mit der Behörde. Ohne einen kundigen Rechtsvertreter, der mit seiner juristischen Sachkenntnis die oft schleppenden Verfahren beschleunigte und Druck auf die Sachbearbeiter ausüben konnte, waren die Verfolgten meist nicht in der Lage, ihre Forderungen mit der nötigen Vehemenz vorzutragen. Die Anwälte übernahmen in diesen langen und für die Verfolgten oft mit schmerzhaften Erinnerungen verbundenen Auseinandersetzungen vielfach die Rolle eines Beschützers vor der als unmenschlich empfundenen Entschädigungs­bürokratie.

Über die Hälfte der finanziellen Leistungen entfielen auf Schäden an Körper und Gesundheit. War der Antragsteller «nicht unerheblich» an Körper oder Gesundheit geschädigt und der «ursächliche Zusammenhang» mit der Verfolgung «wahrscheinlich», konnten Heilverfahrenskosten und ab einer Schädigung von 25 Prozent der Erwerbsfähigkeit auch eine Rente gewährt werden. Die ärztlichen Gutachten für die im Ausland lebenden Antragsteller fertigten häufig selbst emigrierte deutsche Ärzte an. Ihre Gutachten wurden von den Amtsärzten der Entschädigungsbehörden regelmäßig unter dem Vorwurf mangelnder Objektivität und dem Übersehen «anlagebedingter Leiden» zurückgewiesen. Letztlich mussten meist gerichtliche Sachgutachten die für die Verfolgten entscheidenden Zwistigkeiten der Ärztegruppen nach Aktenlage entscheiden. Speziell bei psychischen Schäden herrschte damals noch eine heute unverständliche Sichtweise bei Ärzten und Entschädigungsbehörden vor: «Zwischen Verfolgung und Schizophrenie besteht indessen nach gesicherten ärztlichen wissenschaftlichen Kenntnissen ein Zusammenhang höchstens dann, wenn die Verfolgte außergewöhnlichen und überdurchschnittlichen Belastungen ausgesetzt war, also Belastungen, die weit über das in Krieg, Katastrophe und KZ-Haft Übliche hinausgehen.»

Nur sehr langsam verfestigte sich bei den Amtsärzten die Ansicht, dass ein Zusammenhang bestand zwischen erlebter Verfolgung und psychischen Leiden, die oftmals erst Jahre später auftraten.

In ihrem jährlichen Bericht zur Wiedergutmachung stellt das Bundesfinanzministerium bilanzierend fest, dass die Hälfte der rund vier Millionen Entschädigungsanträge anerkannt, nur knapp eine Million abgelehnt wurde. Ferner sind von der Bundesrepublik für die Entschädigung bis heute 46 Milliarden Euro aufgebracht worden, mehr als 80 Prozent davon gingen an NS-Verfolgte im Ausland, größtenteils nach Israel.

Aktuelle Forschungsergebnisse und kenntnisreiche Perspektiven auf die Praxis der Entschädigung nationalsozialistischen Unrechts präsentiert ein aus einem deutsch-israelischen Forschungsprojekt der Universitäten Bochum und Tel Aviv hervorgegangener, von Norbert Frei, José Brunner und Constantin Goschler herausgegebene Sammelband «Praxis der Wiedergutmachung». Die Autoren wenden sich darin sowohl gegen die eingangs erwähnte Interpretation einer Erfolgsgeschichte als auch gegen die simplifizierende Deutung eines völligen Versagens der deutschen Wiedergutmachungsbemühungen. Angesichts der beispiellosen Schäden der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft riefen die anfangs unzulänglichen Normierungsversuche der Wiedergutmachung krasse Ungerechtigkeiten, Fehler und Widrigkeiten hervor. Erst über den langen gemeinsamen Lernprozess der involvierten Akteure, die sich um einen gerechten Ausgleich bemühten, und die stetige Beseitigung der Lücken im System entstand das heute von vielen als Universalmodell gelobte Modell der Wiedergutmachung. Das dabei eher Versuch und Irrtum die Entwicklung der Wiedergutmachung leiteten und der Prozess noch lange nicht vorbei ist, wie Zwangsarbeiterentschädigung, Restitution von Raubkunst und Ghettorenten bezeugen, wird dabei geflissentlich übersehen. Die Wiedergutmachung hat den Schaden nicht «wieder gut gemacht», sie kann nur den Überlebenden ihren Lebensabend erleichtern und ihnen damit im Ansatz Genugtuung und Gerechtigkeit für das ihnen angetane Leid widerfahren lassen.

Florian Grumblies promoviert an der Universität Hannover zur Praxis von «Arisierung» und «Wiedergutmachung» am Beispiel der Juden in Hannover.

Norbert Frei, José Brunner, Constantin Goschler (Hg.): Die Praxis der Wiedergutmachung. Geschichte, Erfahrung und Wirkung in Deutschland und Israel
Wallstein Verlag 2009, Geb., 773 S., Euro 52,00, Bestellen?