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Juden und deutsches Militär

Nach seiner Gründung 2006 hat der Bund jüdischer Soldaten 2008/2009 sein bisher grösstes Bildungsprojekt durchgeführt: Jüdische und nicht-jüdische Soldaten sowie Schüler, Lehrer, Journalisten, Bildungsinstitutionen und Wissenschaftler waren dazu aufgerufen, das Verhältnis von Deutschen und Juden im Militär zu untersuchen. Die Arbeitsergebnisse dieses bundesweiten Bildungsprojekts unter Schirmherrschaft des Wehrbeauftragten und vom Deutschen Bundeswehrverband massgeblich geförderten Projekts liegen nun in Buchform vor…

Charlotte Knobloch, Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland, hob hervor: Keine Tagung, kein Vortrag und kein Schulunterricht hätten das Thema besser beleuchten können. Ulrich Kirsch, der Bundesvorsitzende des Deutschen Bundeswehrverbandes, betont, dass das Bildungsprojekt erstmals den Blick auch auf die Gegenwart und die Zukunft deutscher Streitkräfte lenkt. Jüdische Soldatinnen und Soldaten sind nach dem Holocaust nicht nur sichtbares Zeichen eines insgesamt gelungenen Traditionsbruches mit der Wehrmacht, sondern auch Beweis für den Aufbau einer multiethnischen und multireligiösen Parlamentsarmee. Schon heute dienen in der Bundeswehr Soldatinnen und Soldaten aus mehr als 85 Herkunftsländern.

Das Bildungsprojekt begann 2007 als eine bescheidene Idee der Zusammenarbeit mit der Gedenkstätte "Landjuden an der Sieg" des Landkreises Siegburg und dem Siegburger "Anno-Gymnasium". Im Kern sollte der Frage nachgegangen werden, wie sich Erfahrungen aus der Ausgrenzung von Juden, exemplarisch an jüdischen Soldaten dargestellt, auf das "Hier und Jetzt" als Denkanstösse für die gesellschaftliche Diskussion übertragen lassen. Rasch wurde deutlich, dass sich das Projekt für die politische Bildung in Bundeswehr und Schulen, aber auch zur Diskussion in jüdischen Gemeinden nutzen lassen würde. Das Verteidigungsministerium und der Deutsche BundeswehrVerband mit seinem Bildungswerk erklärten sofort ihre Unterstützung. Ebenso weitere Schulen, wie die jüdische Berliner Oberschule, oder andere Organisationen, wie die Friedrich-Ebert-Stiftung, die hierzu eine Podiumsdiskussion und eine Ausstellung ermöglichte, oder der Jüdische Studentenverband aus Hessen. Bundeswehrverbände und —schulen diskutierten so mit jüdischen Jugendlichen und Studenten. Nichtjüdische Schüler beschäftigten sich mit einem bisher eher unbekannten Thema. Schweizer und österreichische jüdische Soldaten trugen aus ihren Erfahrungen zum Projekt bei. Am Ende entstand eine Gesamtschau, bei der aus unterschiedlichsten Perspektiven das Thema "Juden und deutsches Militär" in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft beleuchtet wurde.

Deutsches Militär – Brennglas des deutsch-jüdischen Verhältnisses

Mit nahezu keiner anderen gesellschaftlichen Institution lässt sich die immer wieder gescheiterte Integration deutscher Juden in die "deutsche Nation" so exemplarisch darstellen, wie anhand des Militärs. Stand das Militär im 19. Jahrhundert und beginnenden 20. Jahrhundert gleichsam für die Identität mit Staat und Nation und konnte so als "Lackmustest" für die Integrationsfähigkeit der deutschen Gesellschaft dienen, so stellt sich die heutige Bundeswehr mit ihren Soldatinnen und Soldaten aus mehr als 85 Herkunfts- bzw. Geburtsländern quasi wie ein (eingeschränktes) Mikroabbild unserer multiethnischen und —religiösen Gesellschaft dar. So oder so verdichten sich also in dem speziellen Verhältnis "Juden und deutsche Armeen" die grundlegenden Herausforderungen des deutsch-jüdischen Verhältnisses. Dieser Band beleuchtet daher in einer historischen Gesamtschau zugleich die Ausgrenzungsmechanismen und den Partikularismus deutscher Identitätskonstruktionen sowie jüdische Reaktionen. Ernüchterndes Resümee für die Vergangenheit:Nur in den Kriegen bis zum NS-Regime waren Juden vordergründig wirklich gleichberechtigt. Ansonsten hatten Juden — als nicht zur Volksnation dazugehörend empfunden — keinen Platz im Offizierkorps.

Aus der Geschichte lernen heisst, nicht bei blosser Beschreibung stehen zu bleiben. Militär- und kunsthistorische, religionsphilosophisch orientierte bis hin zu eher staatsphilosophisch, politikwissenschaftlich, kultursoziologisch und medienpolitisch ausgerichtete Perspektiven lassen in dem Buch "Juden und Militär in Deutschland" ein buntes, letztendlich aber in sich geschlossenes Bild entstehen: Die Stellung jüdischer Soldaten lässt sich einerseits ohne ihren Bezug zum Judentum und andererseits ohne die Bewertung der Integrationsfähigkeit der deutschen Gesellschaft nicht verstehen.

Jeder fünfte jüdische Jugendliche will zur Bundeswehr

Knapp 150 Jugendliche aus zwölf jüdischen Gemeinden wurden zu ihren Erfahrungen und Einstellungen zu Staat, Bundeswehr und Integration befragt. Deutlich wurde: Die Wunden des Massenmordes am europäischen Judentum sind noch längst nicht verheilt. Mehr als sechzig Prozent der Jugendlichen gaben an, dass sie den Dienst in der Bundeswehr auch heute noch ihren Familien nicht muten können. Rational mögen die Überlebenden und ihre Kinder sowie Enkel den Unterschied zwischen Bundeswehr und Wehrmacht erfassen können, emotional ist die Angst vor deutschen Militär noch zu tief in die Seelen eingebrannt. Die schätzungsweise 200 jüdischen Soldatinnen und Soldaten in der Bundeswehr geben jedoch einen Trend wieder: Mittlerweile möchte jeder fünfte jüdische Jugendliche, darunter auch Frauen, in der Bundeswehr den Dienst versehen.

Antisemitismus nicht nur ein Randproblem gewalttätiger Skinheads

Mehrere Beiträge des Buches zeigen auf, dass Antisemitismus kein gesellschaftliches Randproblem ist und sich nicht auf rechte Schläger begrenzen lässt. Antisemitische Vorurteile sind weit verbreitet und werden oft gar nicht als solche wahrgenommen. Deutlich wurde vielen Soldaten und Schülern im Laufe des Projektes erstmals, das Judenhass kein üblicher Rassismus ist. "Der" Jude dient rechten und linken Antisemiten und manchem Globalisierungskritiker sowie Islamisten als Antimodell für ihre Gesellschaftsmodelle, die eine überschaubare und scheinbar "heile" Welt versprechen. Diese antidemokratischen Botschaften fallen nach wie vor auf fruchtbaren Boden: Sechzig Prozent der befragten jüdischen Jugendlichen gaben an, dass es für sie als Juden in Deutschland "No-go-Areas" gibt. Jeder dritte jüdische Jugendliche berichtet von persönlich erlebtem Antisemitismus. Besonders dramatisch die Situation in Berlin: Hier ist der Umfrage zufolge jeder Dritte schon Opfer antisemitischer Gewaltangriffe geworden.

Die Analyse des Antisemitismus zeigt aber auch auf, dass Juden einschliesslich der jüdischen Soldaten in der Bundeswehr heute nicht allein Angriffsziel vormoderner Denker sind: Durch ihre pluralistische Ausformung sind es unsere Gesellschaft als solche und aufgrund ihrer weltweiten Friedenseinsätze die Bundeswehr im besonderen geworden.

Michael Berger/Gideon Römer-Hillebrecht (Hrsg.), Juden und Militär in Deutschland. Zwischen Integration, Assimilation, Ausgrenzung und Vernichtung
Nomos-Verlag 2009; ISBN 978-3-8329-4471-1, 375 Seiten, Euro 49,00 [Bestellen?]