Kategorien / Themen

Werbung

Der Mensch als statistische Erhebung

Espen Søbye rekonstruiert in "Kathe. Deportiert aus Norwegen" das kurze Leben eines norwegisch-jüdischen Mädchens im Zweiten Weltkrieg…

Von Sonja Galler

Name? Kathe Lasnik. Geboren? 13. Oktober 1927 in Oslo. Religion? Mosaisch. Seit wann in Norwegen? Seit jeher.

katheEs sind ganz gewöhnliche und dennoch keine unschuldigen Fragen, die im "Fragebogen für Juden in Norwegen" gestellt werden: Sind sie doch Teil der behördlichen Erfassung, die während des Zweiten Weltkriegs zum fatalen Instrument der Lokalisierung und Verfolgung jüdischer Mitbürger wurde. Auch im ab 1940 deutsch besetzten Norwegen.

Auf den Erfassungsbogen der jüdischen Gymnasiastin Kathe Lasnik, die 15-jährig in Auschwitz umkam, ist der Statistiker und Kritiker Espen Søbye zufällig gestossen, als er einen Vortrag über den Zusammenhang von statistischer Erhebung und Judenverfolgung im Zweiten Weltkrieg vorbereitete. Er ist an ihm hängen geblieben. Weil er herausfinden wollte, welche Quellen sich über ein Mädchen finden lassen, das zwischen den Weltkriegen in Norwegen aufwuchs. Und weil er den Gedanken entsetzlich fand, "dass man sich nur an sie erinnerte, weil sie Opfer war."

Keine Anne Frank

Doch Søbyes Suche bringt schnell ans Licht: Sie ist keine norwegische Anne Frank, diese Kathe Lasnik, vierte Tochter litauisch-jüdischer Einwanderer. Sie hat keine privaten Zeugnisse, keine Tagebucheintragungen oder Briefe hinterlassen, die nun direkt zum Leser sprechen könnten. Eine Handvoll Fotos gehört zu dem Persönlichsten, was von Kathe geblieben ist.

So geht Søbye einen anderen Weg, um sich Kathes Leben anzunähern: den Weg der Telefonbucheinträge, der statistischen Erhebungen, Gewerbescheine und Akteneinträge — also all jener winzigen bürokratischen Spuren, die ein Menschenleben hinterlässt: Der Leser erfährt so von der bescheidenen beruflichen Etablierung des Vaters als Spengler, den mittelprächtigen Schulabschlüssen der Kinder, kleinen Verliebtheiten, den Heiraten der älteren Schwestern.

Geschickt kombiniert Søbye die bürokratischen Informationen mit wenigen, häufig vage bleibenden, vom Schmerz gedrosselten Berichten von Zeitzeugen, die sich an die Schwester, die Klassenkameradin und Nachbarin Kathe erinnern.

Man will zu Beginn des Buches nicht glauben, dass sich aus dieser peniblen Recherche nach Mietverträgen, Einkommensnachweisen und Klassenbucheintragungen das Leben einer ganzen Familie nachspüren lässt. Und ist dann verblüfft, als sie sich einstellt: Diese Ahnung eines "So könnte es gewesen sein".

Ein kleines Fragezeichen

Es ist dabei gerade die Normalität der Daten und des in ihnen aufscheinenden Lebens, die im Gegensatz zu ihrem jähen und brutalen Lebensende steht und die den Leser berührt. 5 Tage blieben der 15-jährigen Kathe von der Verhaftung in Oslo bis zu ihrem Tod Auschwitz. Nur 20 Minuten nach ihrer Ankunft in Birkenau wurden alle Frauen und Kinder in einer Gaskammer ermordet. "Aus dem Alltagsleben in die Katastrophe", hiess es in der norwegischen Aftenposten.

Es ist der kühle Ton der Bürokratie, der zugleich hohe Emotionalität erzeugt: Die Deportation und Ermordung Kathes hinterlässt nicht viel mehr sichtbare Spuren als ein kleines Fragezeichen hinter ihrem Namen im Klassenbuch ihres Lehrers. Leise entschlüpft die immer nur schemenhaft auftauchende, nie greifbare Kathe wieder aus Søbyes Buch.

Der Deportation und Ermordung Kathes und ihrer Familie folgt im Buch ein Bericht des "Abwicklungsamtes für eingezogenes jüdisches Vermögen", der minutiös die beschlagnahmten Besitztümer der Familie Krasnik erfasst. Alles war von reibungslos ablaufender Organisation. Der für die Verhaftung der Osloer Juden zustände Polizeidirektor Knut Rød verteidigt sich später mit seiner stets handwerklich korrekten und professionellen Berufsauffassung, die ihm nicht ermöglicht hätte, einen an ihn gestellten Auftrag nachlässig aufzuführen.

Emotional zurückgenommen und dennoch engagiert, schildert Søbye in seinem Buch nicht nur den Lebensweg der Familie Lasnik, sondern skizziert auch die Lebensbedingungen der Juden im Norwegen der Vorkriegs- und Kriegszeit: Von ihrer Einwanderung, zumeist aus Osteuropa und Russland, über die schleichende Verschärfung ihrer Lebensbedingungen ab Einmarsch der deutschen Wehrmacht, bis hin zur Deportation: Ein Drittel aller norwegischen Juden, um die 770 Menschen, wurden auf Schiffen aus Norwegen deportiert und fanden im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau den Tod.

Søbyes Buch hat in Norwegen mehrfache Auflagen erlebt und grosses mediales Echo widerfahren. Denn Søbyes Studie kratzt mit ihrer Darstellung einer erschreckend reibungslos verlaufenden Verschleppung und Ermordung von 770 Menschen an dem Selbstbild Norwegens als einer "Nation im Widerstand". Es ist wie das 2006 eröffnete Zentrum für Holocaust-Studien Ausdruck eines selbstkritischen Paradigmenwechsels in der norwegischen Erinnerungspolitik.

Espen Søbye: Kathe. Deportiert aus Norwegen. Assoziation A, Hamburg 2008. Euro 18,00 [Bestellen?]

2 comments to Der Mensch als statistische Erhebung