- Bücher – nicht nur zum Judentum - http://buecher.hagalil.com -

Entrechtung, Enteignung, Verschleierung

Ein neues Jahrbuch des Nürnberger Instituts für NS-Forschung präsentiert bislang unbekannte Details der Vernichtung…

Von Martin Jander

Der professionelle Forscher und der trainierte Leser glaubt nach einiger Zeit intensiver Beschäftigung mit der Vernichtung der europäischen Juden und dem Nationalsozialismus, dass es kaum etwas geben könne, was er noch nicht weiss. Das jedoch ist nicht wahr. Mag sein, dass es kein anderes Verbrechen gibt, dass derart intensiv beforscht wurde wie die Shoah, unbekannte Aspekte und Details gibt es jedoch in grosser Anzahl. Wer das zuletzt erschienene Jahrbuch des Nürnberger Instituts für NS-Forschung (2008) zu Hand nimmt, wird sich davon überzeugen können.

Der Schwerpunkt dieses bereits vierten Jahrbuchs des Instituts ist das Thema "Entrechtung und Enteignung". Bei genauem Hinsehen, geht es jedoch nicht nur um Entrechtung und Enteignung, es geht darüber hinaus um die Entwirklichung, die Derealisierung der Verbrechen und der Leiden nach der Shoah.

Aviv Livnat (Musiker und Maler, PhD Student im Jewish Studies Programm der Universität Tel Aviv) befasst sich damit, wie der 9. November 1938 in der Bildenden Kunst behandelt wird, wie jüdische, aber auch nicht-jüdische Künstler das Verbrechen verarbeiten und darstellen. Das Wort "Kristallnacht" selbst, so der Autor, ruft paradoxe Assoziationen hervor. Einerseits sei da die Ästhetik des Lichts und das hohe Prestige des Kristalls, gleichzeitig kennzeichne das Wort Verbrechen, Mord, Vertreibung und Verbrennung. Livnat zeigt, dass dieses Paradox die Bildende Kunst in verschiedenen Formen beschäftigt hat, sie probiert in neuer Zeit das Thema eher mit künstlerischen Installationen zu präsentieren und rückt das Material selbst (Licht und Kristall) stärker in den Mittelpunkt. Das Paradox selbst, dass ein unermessliches Verbrechen im Medium von Licht und Kristall erinnert wird, lässt sich damit jedoch nicht auflösen. Die Verbrechen treten gewissermassen hinter ihrer Präsentation zurück. Die Kunst findet keine wirklich angemessene Antwort auf die Frage wie die Verbrechen dargestellt werden können.    

Welche Rolle die Entwirklichung für die heutige Erinnerung an die Shoah spielt, zeigt auch Jim G. Tobias (Mitbegründer des Nürnberger Instituts, Experte für jüdische Zeitgeschichte). Er schreibt über die fiskalische "Arisierung" in Nürnberg. Vor allem jedoch darüber, dass nach 1945 häufig nicht nur in Nürnberg dieselben Beamten für Entschädigungsanträge zuständig waren, die vor der Deportation der Juden ihr Vermögen taxiert und dann häufig versteigert hatten. Nach 1945 behaupteten sie nicht selten gegenüber den Erben der Ermordeten, es liessen sich keine Akten mehr auffinden. Jim G. Tobias hat bei seiner Recherche jedoch viele Akten wieder gefunden, er wertet sie in diesem Artikel exemplarisch aus und macht so die Verbrechen selbst und ihre Verleugnung nach 1945 einsehbar.

Auch ein weiterer Autor, Prof. Dr. Lorenz Pfeiffer (Professor für Sportpädagogik an der Universität Hannover), schreibt über das Thema Derealisierung. Er schreibt über vor 1933 weithin bekannte jüdische Spitzensfussballer (Julius Hirsch, Gottfried Fuchs), die verfolgt und ermordet wurden und erst seit kurzer Zeit wieder von ihren ehemaligen Vereinen und in der Öffentlichkeit geehrt werden. In dem 1939 herausgegebenen Sammelbilder Album des Kicker wurden über 400 Fussballnationalspieler aufgeführt, nicht Hirsch und Fuchs. Auch im Reprint von 1988 machten sich die Herausgeber nicht die Mühe dies zu korrigieren. 

Peter Zinke (ebenfalls Mitbegründer des Nürnberger Instituts, Experte zu den Themen Zionismus, jüdischer Widerstand und Antisemitismus) befasst sich mit Gustav Schickedanz, dem Gründer des Versandhauses Quelle. In offiziellen Unternehmensschriften wird betont, Schickedanz habe sich nicht an jüdischem Eigentum bereichert. Autor Zinke belegt, dass das Gegenteil wahr ist. Dr. Christoph Kreutzmüller (Koordinator des Forschungsprojekts über Ausgrenzungsprozesse und Anpassungsstrategien kleinerer und mittlerer jüdischer Gewerbeunternehmen in Berlin von 1930 – 1945) und Elisabeth Weber (Mitarbeiterin im Projekt von Chr. Kreutzmüller) beschäftigen sich in ihrem Aufsatz mit der Rolle des übelsten antisemitischen Hetzblattes Stürmer auf dem Berliner Zeitungsmarkt. Die Aussenstelle des Stürmer in Berlin wurde, so belegen die Autoren, zu einem der wichtigen Faktoren im „Berliner Netzwerk der Verfolgung“. Heike Tagsold (wissenschaftliche Mitarbeiterin im Dokumentationszentrum Prora, Expertin zur fränkisch-jüdischen Geschichte) beschreibt das Ende der jüdischen Gemeinde Memmelsdorf (Unterfranken). Ihr Report schildert minutiös die Zerstörung der jüdischen Gemeinde des Ortes und die mühsame Wiederentdeckung ihrer Geschichte nach 1945.

Andrea Livnat (leitende Redakteurin von haGalil.com, promoviert über Theodor Herzl), schreibt in diesem Sammelband über Entschädigung und Raubgutrückgabe in Israel. Auch sie behandelt das Thema der Entwirklichung, hier jedoch in ganz anderer Weise. Von den ca. 260.000 noch lebenden Überlebenden der Shoah lebten 2007 in Israel etwa 23 % unter der Armutsgrenze, 160.000 erhielten keinerlei Entschädigungszahlungen. Das Problem, so zeigt die Autorin, lag vor allem an der unterschiedlichen Behandlung der Überlebenden. Bis zum Abschluss des Artikels waren zwar kleinere Änderungen eingetreten. Die Debatte und die politischen Reaktionen sind jedoch nicht an ein Ende gekommen.    

Ausserhalb des Schwerpunktes des Sammelbandes schreiben Ruth Weiss (Wirtschaftsjournalistin und Schriftstellerin, publizierte über 20 Sach- und Kinderbücher sowie Romane) Tatjana Knoll (Studentin der Skandinavistik, Neuere und Neueste Geschichte sowie Europäische Ethnologie an der Humboldt Universität Berlin), Josef Moe Hierlmeier (Hauptschullehrer, Spezialist zum Thema Internationalismus) und Dr. Anette Haller (Geschäftsführerin der Sammlung „Germania Judaica“ in Köln). Auch ihre Aufsätze kreisen nicht selten um das Thema der Entwirklichung. So zum Beispiel der Aufsatz von Ruth Weiss, die über das Verhältnis referiert, das die jüdischen Überlebenden, die nach Südafrika flohen, zum Apartheidregime einnahmen. Man habe es dort, schreibt sie, mit einem paradoxen Phänomen zu tun, „die Spitzen der radikalen weissen Anti-Apartheidbewegung waren fast ausschliesslich jüdischen Glaubens“, die überwiegende Mehrheit der südafrikanischen Juden hielt  sich jedoch vom politischen Kampf fern und schottete sich gesellschaftlich, aus Furcht vor dem Antisemitismus, ab. In der Erinnerung heute, dominiere jedoch das radikale Engagement gegen die Apartheid. 

Die Beiträge des Bandes sind durchweg von Spezialisten verfasst, die jedoch, das findet man selten, offenbar alle geübt sind, ihre Themen auch einem nicht wissenschaftlich gebildeten Publikum zu vermitteln. Die Aufsätze lassen sich deshalb auch alle ausgezeichnet in der historisch-politischen Bildung verwenden. Die Details, die in den meisten Artikeln zu Tage befördert werden, sind häufig bestützend und beschämend. Auch der sich ausreichend informiert fühlende Leser bemerkt am Ende, wie wenig er bislang verstanden hat. Die häufig absichtsvolle Derealisierung der Verbrechen und der Leiden sind das eigentliche Thema dieses Bandes.

nurinst 2008: Beiträge zur deutschen und jüdischen Geschichte
Schwerpunktthema: Entrechtung und Enteignung
Jahrbuch des Nürnberger Instituts für NS-Forschung und jüdische Geschichte
des 20. Jahrhunderts
Jim G. Tobias/Peter Zinke (Hg.)
ANTOGO Verlag Nürnberg
ISBN 978-3-938286-34-0, 184 S., 8 Abb. schw.-w., Preis Euro 12,80.
Erhältlich über den Buchhandel oder direkt beim Verlag per eMail:
bestellung(at)antogo-verlag.de oder per Fax: 0911/559241

Nürnberger Institut für NS-Forschung: http://www.nurinst.org/