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Die unsichtbare Wand: Eine bedrückende Kindheitserinnerung

In „Gegenüber die andere Welt, Eine Kindheit“ beschreibt Harry Bernstein seine erlebte Kindheit als Jude zur Zeit der Industrialisierung in einem englischen Arbeiterviertel…

Von Soraya Levin

Geboren im Jahr 1910 wächst Harry als eines von sechs Kindern einer armen Arbeiterfamilie in einer englischen Industriestadt auf. Die Familie lebt wie alle anderen Familien in der Strasse unter ärmlichen Bedingungen. Das einzige Schuhwerk besteht aus Holzschuhen und die Kinder müssen bereits im Alter von zwölf Jahren in der Fabrik schuften. Harrys Vater terrorisiert die Familie und versäuft das wenige Geld, die Mutter rackert sich ab und träumt von einem Neubeginn bei ihrer Verwandtschaft in Amerika.

Obwohl die Armut die Bewohner der Strasse des proletarischen Viertels vereint, zieht sich dennoch ein tiefer, für das Auge nicht sichtbarer Graben mitten durch ihre ärmliche Strasse und trennt die jüdische von der christlichen Seite. Besonders gross ist der Hass gegenüber der jüdischen Bevölkerung. Täglich werden die jüdischen Kinder auf ihrem Weg zur Schule von den Christen überfallen und verprügelt. Demütigungen und Beschimpfungen als Christusmörder, verdammte Juden, Itzigs Jidden und Wucherer sind an der Tagesordnung.

Die beiden Seiten schotten sich voneinander ab und es gibt kaum Kontakte. Ausser am Sabbat, dem jüdischen Feiertag, wo die strenge Sabbatruhe gilt und die Juden selbst kein Feuer entzünden dürfen. Dann kommt ein Feuergoy von der christlichen Seite in ein jüdisches Haus, um das Feuer am Herd zu entfachen. Und es kommt manchmal sogar vor, dass sich zwei Menschen aus Liebe über die Vorbehalte hinweg setzen. So auch in Harrys Strasse. Als herauskommt, dass sich ein jüdisches Mädchen mit einem Christen eingelassen hat, wird sie von ihrer Familie verjagt. Aber auch Harrys Schwester Lily liebt heimlich einen Christen, was unweigerlich in einer Katastrophe münden muss. Einzig der Krieg kommt zunächst dazwischen. Der Krieg, der durch sein hervorgerufenes Leid die beiden Strassenseiten verbindet. Wie durch ein Wunder wird der Kummer geteilt. Christen und Juden finden tröstende Worte für einander, betrauern und beweinen gemeinsam die Toten. Doch nach dem Krieg ist das Wunder wieder vorbei und die tiefe Kluft wieder vorhanden.

Hineingeboren in ein proletarisches Elendsquartier beschreibt Harry Bernstein in seiner Autobiografie nicht nur die tiefe Not der englischen Industriearbeiter sondern zeichnet auch das Bild einer tiefen Spaltung zwischen Juden und Christen. Einer Spaltung, die von Generation zu Generation weitergegeben wird, mit allen verheerenden Folgen für diejenigen, die im Sinne der Aufklärung und der Vernunft für ein menschliches Miteinander eintreten. Denn Harry macht in seinem Kindheitsbericht deutlich, dass Juden und Christen mehr miteinander verbindet wie sie für wahr haben wollen und die Welt gegenüber gar nicht so anders ist. Doch was sie voneinander trennt, können sie nur durch Kummer und Leid überwinden. „Der Krieg, so schien es, hatte jene unsichtbare Mauer fast völlig niedergerissen und brachte die beiden Seiten zusammen. Die Frauen weinten miteinander, legten die Arme umeinander, und dabei schien es keine Rolle zu spielen, ob die einen Jüdinnen und die anderen Christinnen waren"“

Harrys Schwester Lily und ihr christlicher Freund Arthur suchen dagegen wie in Lessings Nathan der Weise eine dauerhaft tolerante Welt, die nicht trennt, sondern vereint. Harrys Kindheitsgeschichte zeigt aber auch die tief sitzende erbitterte Judenfeindschaft im aufgeklärten Europa, die ihre Rechtfertigung im Christusmord sucht. 

Ein aufwühlender bedrückender Bericht über eine jüdische Kindheit, der das Schicksal der proletarischen Klasse zur Zeit der Industrialisierung und die tiefe Spaltung zwischen  Juden und Christen dokumentiert.

Harry Bernstein, Gegenüber die andere Welt, Eine Kindheit, Originaltitel: The Invisible Wall, Aus dem Englischen von Michael Schmidt, 332. S., Einband, Berlin 2007 ECON Verlag, ISBN 978-3-430-30015-5, EUR (D) 19,95, CHF 35,90, Bestellen?

© Soraya Levin,
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Harry Bernstein, geboren 1910, wuchs in Stockport nahe Manchester auf und emigrierte nach dem Ersten Weltkrieg in die USA. Nach dem Tod seiner Frau Ruby, 2002, begann er seine Erinnerungen aufzuschreiben. Gegenwärtig arbeitet er an einer Forsetzung seiner Memoiren.